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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – 29. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B

Im Bewusstsein um die Erhabenheit seiner Würde neigt der Mensch dazu, sich die Welt schön zu denken. Ein Wesen wie er, begabt mit Verstand und Selbstbewusstsein, kann nur der Fixpunkt sein, den Archimedes suchte, um die Welt aus den Angeln zu heben. Wahrlich: Der Mensch macht sich die Welt nicht nur untertan. Er konstruiert sich seine eigenen Weltrealitäten. Er schafft sie immer wieder neu, um sie handhabbar und begreifbar zu machen. Der Mensch konstruiert sich seine Wirklichkeit selbst – und sei es um den Preis der Realitätsverweigerung.

Gerade der postmoderne Mensch der Gegenwart liebt sich selbst um dieser Selbstsuggestion absoluter Autonomie willen sehr. Sich narzisstisch im Glanz des eigenen Spiegelbildes sonnend konstatiert er, dass die Realität ihm zu gehorchen hat. Er ist die Macht, die gottgleich Wirklichkeiten schafft. Er verflucht, was sich ihm widersetzt. Wirklich hat gefälligst nur das zu sein, was er will. Dieser tolle Mensch ist nicht mehr ein Geschöpf, einer Welt ausgesetzt, deren Voraussetzungen ihm Leben ermöglichen, wenn er sich eben mit jenen Voraussetzungen auseinandersetzt. Nein, dem tollen Menschen von heute ist die Welt kein Gegenüber mehr, sondern bestenfalls Objekt, denn er schafft sich seine Welt selbst. Der tolle Mensch von heute ist ein Avatar, der die analoge Wirklichkeit der Welt nur dann braucht, wenn sie ihm in den Kram passt. Wenn sie hingegen zum Störfaktor seines Wünschens und Denkens wird, wird sie schlicht mit einem Bann belegt. Wo käme der tolle Mensch der Gegenwart denn hin, wenn er den Gesetzen der Wirklichkeit gehorchen müsste. Er ist es doch, der sagt, was geht und was nicht; er setzt doch die Maßstäbe, dessen größter er selbst ist, der Fixstern, die Sonne im Mittelpunkt des Egosmos. Wie groß muss er doch sein, weil die Welt um ihn kreist.

Als herausragender Vertreter des tollen Menschen der Gegenwart hat sich jüngst der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer erwiesen, der mit Blick auf die politischen Entscheidungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel bezüglich der Bewältigung des Flüchtlingsstroms kategorisch feststellt:

„Einfach zu sagen, in unserer Zeit lassen sich 3000 Kilometer Grenze nicht mehr schützen, ist eine Kapitulation des Rechtsstaats vor der Realität.“ (Quelle: Spiegel online – 10.10.2015)

Sicher kann und muss in der Politik über den Umgang mit der gegenwärtigen Herausforderung gerungen und gestritten werden, die sich in Europa durch die vielen aus ihrer Heimat durch Krieg und Verfolgung Vertriebenen stellt. Nun ist aber genau das die Realität, die die Voraussetzungen für das Handeln schafft. In der Tat: Es ist das Schicksal des Menschen in seinem Wesen als Geschöpf, dass er die Realität als Wirklichkeit anerkennen muss. Sie schafft den Rahmen für die Entfaltung seines Lebens. Der Mensch an sich ist seinem Wesen nach verdammt dazu, vor der Realität zu kapitulieren.

Die Realität kann ohne den Menschen sein, der Mensch aber nicht ohne die Realität. Toll geworden aber glaubt der Mensch von heute offenkundig, er habe sich dieser Wesenseigenschaft endlich entledigt und schaffe nur seine eigenen Rahmenbedingungen. In dieser autosuggestiven Totalautonomie kotzt ihn das Schicksal der Leidenden noch nicht einmal mehr an. So behauptete etwa Erwin Kress, der Vizepräsident der Humanistischen Verbandes Deutschlands, bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Humanes Sterben“ am 14. September 2015 in Wuppertal, die autonome Entscheidung des Piloten der Germanwings-Maschine, das Flugzeug zum Absturz zu bringen, habe die autonomen Entscheidungen der 149 Passagiere und Crewmitglieder, die er mit in den Tod genommen hab, in keiner Weise beeinflusst. Das ist im wahrsten Sinn des Wortes toll …

Die Realität kann dem tollen Menschen von heute nichts mehr anhaben. Er schafft sich seine eigene kleine tolle Wirklichkeit einfach selbst. Die Tollheit verbreitet sich viral. Sie macht keinen Halt vor der Kirche. Im Gegenteil: Das Bewusstsein der eigenen Erwählung trägt die Verführung der Selbstüberhebung in sich. Dabei benötigt die Erwählung keine Verobjektivierung mehr. Es genügt, sich selbst berufen zu wissen. Nicht mehr das Sein bestimmt hier das Bewusstsein, sondern das Bewusstsein bestimmt das Sein. Die Emotion wird zur Information. Wahr ist, was der Mensch fühlt, wie er sich fühlt, was er über sich denkt.

Tatsächlich schwindet in der Diktion kirchlicher Würdenträger das Bewusstsein für das Sein an sich. Es gibt kein Sein mehr. Der Mensch an sich muss stattdessen permanent irgendwozu berufen werden. Wer das glaubt, glaubt offenkundig nicht mehr, dass Gott den Menschen als Mann und Frau erschaffen hat – also als Menschen an sich. Das einfache Menschsein als Frau oder als Mann reicht nicht mehr; der Ruf ins Leben schon gar nicht. Der Mensch muss berufen sein – zum Amt oder zur Ehe. Die Ehe ist keine geschöpfliche conditio humana mehr, die sich aus seiner Geschöpflichkeit an sich ergibt; sie wird jetzt zur Berufung. Das ist toll!

So toll, dass man sich nur an den Kopf fassen mag. Denn diese kirchliche Konstruktion der Wirklichkeit führt dazu, dass nicht nur der Mensch an sich, in seiner ganzen Hinfälligkeit und in seinem Glücksstreben, aus dem Blick gerät. Die kirchliche Konstruktion der Wirklichkeit braucht auch Gott nicht mehr wirklich. Die Doktrin ersetzt den Willen Gottes. Sie wird als Wille Gottes verklärt. Die Doktrin ist das Licht, das diejenigen geschaffen haben, die die Doktrin formuliert haben. Wo käme man denn da hin, wenn die Doktrin, die reine Lehre vor der Realität kapitulieren würde …

Die kirchlichen Konstrukteure der Wirklichkeit sind nicht nur tolle Menschen, sie brauchen auch tolle Menschen. Die digitalen Avatare dieser kirchlich konstruierten Wirklichkeit, die so gerne das „kath“ nett finden, sind denn auch schnell dabei, die aus ihrer Sicht tollen Menschen von denen zu scheiden, die nie toll sein werden. Selig ist dann, wer sich im Licht der reinen Lehre sonnen kann. Der Glaube ist eben toll! Er ist auf keinen Fall etwas für Schwache und Gefallene, die nicht stark genug waren, den Forderungen der kirchlich doktrinierten Konstruktion der Wirklichkeit zu genügen.

Tatsächlich ist das Virus menschlicher Tollheit keine moderne Mutation. Es ist Teil der Schöpfung selbst. Es hat seinen Ursprung in der Gottebenbildlichkeit des Menschen, denn

Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. (Genesis 1,27)

Das aber genügte dem Menschen von Anfang an nicht. Er wollte nicht bloß Abbild sein, eine Art Kopie; denn Kopien sind immer schlechter als das Original. Nein! Gerade weil der Mensch weiß, dass er in den Augen Gottes nicht nur gut, sondern „sehr gut“ (vgl. Genesis 1,31) war, wusste er, dass er toll sein musste. Deshalb genügte ja nur ein kleiner Impuls und mit seinem Mündigwerden erlangte er das Bewusstsein der Potenz, selbst Wirklichkeiten zu schaffen. Es genügte die Einflüsterung der Schlange, die den Menschen so richtig toll werden ließ:

Ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. (Genesis 3,4b.5)

Die Realitätsverleugnung der eigenen Sterblichkeit treibt den Menschen also zu den tollsten Dingen. Und die Jünger Christi sind vor dieser Tollheit nicht gefeit, wie das Evangelium vom 29. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B zu berichten weiß:

In jener Zeit traten Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, zu ihm und sagten: Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst. Er antwortete: Was soll ich für euch tun? Sie sagten zu ihm: Lass in deinem Reich einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen. (Markus 10,35-37)

Jesus versucht noch, dem Ansinnen der beiden apostolischen Karrieristen die blanke Realität der Nachfolge vor Augen zu halten:

Jesus erwiderte: Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? (Markus 10,37)

Aber toll, wie sie sich nun aber einmal selbst finden, antworten sie:

Wir können es. (Markus 10,39a)

Das Kartenhaus der beiden Auserwählten ruht freilich auf wenig Fundament. Toll geworden mangelt es ihnen an der wahren Erkenntnis der Realitäten. Der Mensch mag sich seinen eigenen Wirklichkeiten schaffen, wirklich aber sind sie deshalb noch lange nicht. Gegen die selbstkontruierte Doktrin setzt Jesus deshalb des Lebens Lehre:

Ihr werdet den Kelch trinken, den ich trinke, und die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde. Doch den Platz zu meiner Rechten und zu meiner Linken habe nicht ich zu vergeben; dort werden die sitzen, für die diese Plätze bestimmt sind. (Markus 10,39b-40)

Toll ist er nicht, der Tod, auf den Jesus hier anspielt, denn Taufe heißt auf griechisch βἀπτισμα (gesprochen: báptisma); und βἀπτισμα heißt Untertauchung. Die Taufe, das ist der Untergang. Nicht umsonst schreibt Paulus im Römerbrief:

Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind. Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod. (Römer 6,3-4a)

Der Tod ist Wirklichkeit. Er ist sogar eine absolute Wirklichkeit. Er ist die einzige absolute Wirklichkeit, auf die sich der Mensch verlassen kann. Er ist todsicher.

Das findet der Mensch in der Regel gar nicht toll. Deshalb konstruiert er sich seine schönen Schein lieber selbst. Aber er wird auch in diesem schönen Schein untergehen.

Tatsächlich wird der Mensch erst zu sich selbst kommen, wenn er die Todgeweihtheit seines Seins in sein Bewusstsein lässt. Erst dann wird er wirklich Mensch werden. Erst dann werden die Verhältnisse zurecht gerückt. Nicht der Mensch ist das Absolutum. Es ist der Tod! Und erst wenn der Mensch sich seiner Todgeweihtheit bewusst wird, wird er von seiner Tollheit befreit. Er wird zum Menschen, als Frau und als Mann.

Befreit vom Druck der Tollheit wird der Mensch verstehen, was der Prediger der Gemeinde in dem Auszug aus dem Schreiben an die Hebräer mitteilt, der in der zweiten Lesung vom 29. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B verkündet wird:

Da wir nun einen erhabenen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns an dem Bekenntnis festhalten. Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat. Lasst uns also voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit. (Hebräer 4,14-16)

Der Prediger erinnert seine Gemeinde an die wahre Mitte. Es gibt nur einen wahren Hohenpriester. Es ist Jesus, der Sohn Gottes, dessen Kreuzestod und Auferstehung als Bekenntnis die Basis des Glaubens bilden. Der Sohn Gottes kennt die Schwäche der Menschen. Er kennt die Gefallenheit. Wer ihm nachfolgt, hat es nicht mehr nur nicht nötig, toll zu sein. Er kann nüchtern die wahre Wirklichkeit betrachten. Er erkennt, das er Geschöpf ist, das zum Leben berufen wurde. Er erkennt vor allem den Urgrund des Rufes. Es ist dieser Ruf zum Leben an sich, der Anlass zur Zuversicht gibt. Gott will, dass er lebt. Der Mensch weiß es, weil er lebt. Und das Leben ist mächtig. Es trotzt den Widrigkeiten der Wirklichkeit. Das Leben an sich lehrt, dass Gott gnädig ist. Paulus folgert das aus der Auferstehung:

Und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. (Römer 6,4b)

Gerade weil Jesus selbst die Schwächen des Lebens und seine Widrigkeiten ausgekostet hat, gerade weil sein Schicksal eben nicht toll war, braucht der Mensch selbst nicht mehr toll zu sein:

Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein. (Römer 6,5)

Der Preis für die Auferstehung in das Licht Gottes hinein ist die Dunkelheit des Todes. Und im Tod sind alle Menschen gleich. Da gibt es nicht mehr Mann und Frau, Kleriker oder Laie, Europäer oder Flüchtling. Das ist genauso blanke Realität, wie die Lebensliebe Gottes. Wehe denen, die so toll sind, Wirklichkeiten zu schaffen, in denen die Menschen nicht mehr die Fülle des Lebens finden können.

Dr. Werner Kleine

Author: Dr. Werner Kleine

Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.

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