Dies Domini – 23. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Unberührt vom Schicksal der Menschen kultiviert manch ein besorgter Bürger seinen eigenen Ängste und Vorurteile. Lärm und Schmutz, eingeschleppte Krankheiten und vor allem die irrige Ansicht, dass diejenigen, die da tausende von Kilometern vor Tod und Verfolgung geflohen sind, hätten nichts anderes im Sinn als sich das Hab und Gut ehrbarer Bürgerinnen und Bürger anzueignen. Man sieht das Bild förmlich vor sich, wie die Heimatvertriebenen der Gegenwart über die frisch gestrichenen Jägerzäune steigen und die ordentlich gemähten Vorgärten bevölkern. „Bin ich fern von Gott“? – fragt eine Kommentatorin des Beitrages „Du sollst den Flüchtling lieben“, den Till Magnus Steiner in Weblog „Dei Verbum“ veröffentlicht hat und listet eine ganze Reihe von Befürchtungen auf, die man so oder ähnlich immer wieder hört, auch wenn sie jeder Grundlage entbehren. Wer die Fragen liest, spürt die irrationale Angst, die aus der Unwissenheit erwächst. Kaum jemand, der solche Befürchtungen äußert, hat je einen Flüchtling gesehen oder ist ihm überhaupt nur nahe gekommen. Man jammert und lamentiert, man fürchtet sich um seinen Besitz und Lebensstandard, der doch eigentlich gar nicht in Gefahr ist. Bisher jedenfalls musst niemand in unserer Gesellschaft Hunger leiden, weil Vertriebene hier eine Aussicht auf Leben suchen. Niemand musste hier wirklich verzichten. Die einzigen, die bisher lärmen und grölen und ihren geistigen Schmutz verbreiten, sind die sogenannten „besorgten Bürger“, deren kleinkariertem Denken man mit dem Psalmisten entgegen halten muss:
Werdet nicht wie Roß und Maultier, die ohne Verstand sind. (Psalm 32,9)
Tatsächlich lässt die Begegnung mit den Fremden wohl niemanden ungerührt. Die einen werden von merkwürdigen Ängsten überrollt, andere hingegen treibt das im besten Sinn verstandene Mitleid zu großem Engagement. Was vielen wohl kaum gegenwärtig ist, ist die Tatsache, dass die Fremden bleiben werden. Aus Flüchtlingen werden Nachbarn werden, aus Heimatvertriebenen Mitbürger, aus Asylbewerbern Steuerzahler, die das Wenige, was sie jetzt vom Staat bekommen, um ein Vielfaches in die Staats- und Sozialkassen zurückzahlen werden.
Gleichwohl wird man sich vor allzu viel Sozialromantik hüten müssen. Fremde bleiben fremd. Die Erzählung von der Begegnung Jesu mit der Syrophönizierin im Markusevangelium, die die Leseordnung der katholischen Kirche zwischen dem 22. und dem 23. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B leider auslässt, ist ein wunderbares Lehrstück. Tatsächlich ist es hier Jesus, der sich in die Fremde zurückzieht. Nach der Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten um die Frage der Reinheit, die das Thema des letzten Wortes zur Woche war, zieht er sich zurück:
Jesus brach auf und zog von dort in das Gebiet von Tyrus. (Markus 7,24)
Tyrus aber lag auf heidnischem, also fremdem Gebiet.
Dort ereignet sich nun eine bemerkenswerte Begegnung zwischen Jesus und einer syrophönizischen Heidin. Die Frau ersucht Jesus um die Heilung ihrer Tochter. Jesus aber weist sie mit barschen Worten zurück:
Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen. (Markus 7,27)
Die Worte Jesu beinhalten eine beleidigende Beschimpfung. Der Heiland ist hier eher ein Hardliner. Was hat er mit der Fremden zu schaffen?
Die Fremde aber lässt nicht locker. Sie avanciert zur eigentlichen Heldin der Geschichte. Sie überwindet Jesus, indem sie dessen negative Energie aufnimmt und – sicher nicht ohne Humor – umdeutet:
Ja, du hast recht, Herr! Aber auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen. (Markus 7,28)
Die Bemerkung ist klug und intelligent. Sie ist entwaffnend. Sie bekehrt den harten Heiland, der seine Lektion lernt – ihn, der sie eben noch beschimpfte, obwohl er doch den Pharisäern und Schriftgelehrten entgegnet hatte:
Was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken. (Markus 7,21)
Und Jesus verheißt der fremden Frau die Genesung ihrer Tochter.
Mit einem Augenblick veränderte die Frau in einem Augenblick das Verhältnis der Fremden. Sie bleiben sich fremden. Aber die Frau rührt etwas in Jesus an:
„Das Erstaunen bleibt, wie der Sohn Gottes als Mensch fremdeln kann. Aber er lässt sich überwinden – im Augenblick einer Begegnung.“ (W. Kleine, Fremde bleiben!. Über die Macht des Augenblicks, veröffentlicht bei www.dei-verbum.de)
Die Begegnung mit der syrophönizischen Frau hat Jesus verändert (mehr zur Auslegung der Erzählung im Weblog „Dei Verbum“). Hier setzt das Evangelium vom 23. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B ein:
Jesus verließ das Gebiet von Tyrus wieder und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis. Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. (Markus 7,31f)
Dass die pure Berührung durch Jesus heilt, ist in der Dramaturgie des Markusevangeliums bereits mehrfach erzählt worden. Bereits das 1. Kapitel des Markusevangeliums berichtet mehrfach davon:
Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen mit Jesus über sie, und er ging zu ihr, fasst sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie sorgte für sie. (Markus 1,30f)
oder bei der Heilung des Aussätzigen:
Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es – werde rein! (Markus 1,41)
Die Berührungen Jesu waren vorsichtig, fast distanziert. Er fasst zwar an der Hand oder streckt die Hand aus. Aber man gewinnt den Eindruck, dass hier doch immer eine Armlänge Abstand zwischen Jesus und den Kranken gewahrt bleibt. Er ist ein Mann des Wortes. Sein Wort ist wirkmächtig. Er spricht und heilt mit göttlicher Vollmacht. Er bleibt darin auf Distanz, ja er sucht die Distanz. Immer öfter berichtet Markus davon, etwa wenn er im Anschluss an die Heilung des Aussätzigen anmerkt:
Er (der Aussätzige) verbreitete ganze Geschichte, so dass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen konnte; er hielt sich nur noch außerhalb der Städte an einsamen Orten auf. Dennoch kamen die Leute von überallher zu ihm. (Markus 1,45)
Schließlich verlässt er das Land und geht in heidnisches, syrophönizisches Gebiet, nach Tyrus, das damals auf einer Insel lag – den Menschen fern, auf Distanz zu all denen, die ihm nachstellen in Feind- und Freundschaft, die Heilung suchen bei ihm. Die armlange Nähe wurde zuviel, so dass er Distanz braucht. Raus, weg von den Menschen, Ruhe! Vielleicht hat er sich gefragt, was die Leute alle von ihm wollen.
Aber selbst in Tyrus hat er keine Ruhe. Selbst dort hatte man von ihm gehört, so dass die Syrophönizierin, die fremde Heidin, die für den Juden Jesus doch gerade wegen ihres Fremdseins unberührbar war, zu ihm geht und letztlich sein Herz berührt. Diese Begegnung verändert. Der Augenblick der Frau hat die Distanz überwunden. Und auch Jesus überwindet sich. Er berührt die Menschen nun wirklich – nicht mehr zaghaft und vorsichtig. Die unmittelbar folgende Erzählung von der Heilung des Taubstummen, die im Evangelium vom 23. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B verkündet wird, zeigt das mehr als eindrücklich:
Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. (Markus 7,32)
Wortwörtlich bedeutet berühren hier, „die Hand auflegen“ (ἐπιτίθεσθαι αὐτῷ τὴν χεῖρα – gesprochen: epitíthesthai autô tèn cheîra). Das ist das, was Jesus bisher getan hatte. Jetzt aber setzt überwindet er die Distanz der Handauflegung. Er überwindet die Anonymität der Öffentlichkeit, in der die bisherigen Heilungen geschahen. Er schafft Intimität und Nähe:
Er (Jesus) nahm ihn (den Taubstummen) beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel. (Markus 7,33)
Die ganze Situation ist von großer Nähe geprägt. Die Nähe ist geradezu körperlich spürbar. Jesus berührt wirklich, wirksam, wirkkräftig. Gerade die Berührung der Zunge mit Speichel deutet die Intimität dieser Begegnung an. Der griechische Text spricht von πτύσας ἥψατο τῆς γλώσσης αὐτοῦ (gesprochen: ptysas tês glósses autoû), das heißt wörtlich: „spuckend berührte er seine Zunge“. Jesus muss dem Taubstummen also sehr nahe gekommen sein, wenn er die Zunge wirklich auf diese Weise mit Speichel berührt hat. Ja, er muss ihn geküsst haben.
Jesus küsst den ihm Fremden. Er überwindet die Schamgrenze. Er berührt wahrhaft. Nicht mehr vorsichtig und distanziert. Er rührt den Menschen an. Konkret. Krass konkret. Körperlich. Der Körper ist der Weg zur Seele, weil der Mensch auch Körper ist.
Die Nähe der Berührung verändert das Wort:
Danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit, und er konnte richtig reden. (Markus 7,34f)
Jesus spricht nicht einfach, er seufzt (griechisch: ἐστέναξεν – esténaxen). Und Markus überliefert das Heilungswort in der aramäischen Muttersprache Jesu: Effata!
Die Vertrautheit der Situation, die körperliche Nähe, die respektvolle Intimität der Begegnung Jesu mit dem Taubstummen ist mit Händen zu greifen. Ist es die Begegnung mit der fremden Syrophönizierin, die das in Jesus bewirkt hat? Die Dramaturgie des Markusevangeliums legt das nahe. Schade, dass die Leseordnung der katholischen Liturgie die Begegnung mit der Frau in Tyrus überspringt …
„Christus berührbar machen“ – so lautete lauteten Gedankenanstöße, die das Erzbistum Köln seinerzeit zum Katholikentag 2011 in Mannheim veröffentlicht hatte. Das sei die Aufgabe, die die Kirche heute hat.
fragte ich seinerzeit in einem Beitrag zu den Gedankenanstößen. Damals antwortete ich:
„Es geht (…) nicht darum, eine größtmögliche Intimität herzustellen, die nicht unserem Empfinden entspricht. Es geht um eine grundsätzliche Haltung, der Begegnung nicht aus dem Weg zu gehen. Berührende Begegnungen kann man nicht planen. Sie ergeben sich.“ (W. Kleine, Wie soll das gehen?, in: Erzbistum Köln, Christus berührbar machen, Köln 2011, S. 8f)
Tatsächlich sind berührende Begegnungen nicht planbar. Und vielleicht ist es auch richtig, dass nicht jedem die Überwindung zuzumuten ist, größtmögliche Intimität herzustellen. Aber etwas anderes wird bedeutsam. Das Beispiel Jesu, sein eigener Lernprozess, lehrt, dass es nicht darum gehen kann, Christus berührbar zu machen. Es geht darum, zu berühren – konkret, im wahrsten Sinn des Wortes.
Die Berührung Jesu vollzog sich durch das Auflegen der Hände. Jedem Getauften und Gefirmten wurden bei der Firmung die Hände aufgelegt. Damit wurde der Auftrag erteilt:
Der Gefirmte erhält die Vollmacht, öffentlich – wie von Amts wegen – den Glauben zu bekennen. (Thomas von Aquin)
Der Getaufte und Gefirmte trägt also den Auftrag Jesu selbst in sich. Mehr noch: Getaufte und Gefirmte sollten wissen, dass sie Trägerinnen und Träger des Heiligen Geistes sind. Gott selbst hat Wohnsitz in ihnen genommen. Sie sind Tempel Gottes. In ihrem Antlitz begegnet der Welt Gott. Und sie begegnen Gott in dem Antlitz der Nächsten, die doch ebenfalls den Hauch Gottes in sich tragen und durch ihn zum Leben kamen. Wie kann ein Tempel Gottes Angst vor dem anderen Tempel Gottes haben?
Getaufte und Gefirmte tragen den Auftrag Jesu selbst in sich. Sie können ihn nicht delegieren. Deshalb brauchen sie nicht nach Wegen suchen, Christus berührbar zu machen. Sie tragen seinen Geist doch in sich. Als auf ihr Christen: Berührt die Menschen, wie Jesus sie berührt hat. Er berührt die Menschen durch euch selbst!
Nicht jeder wird sich zu übergroßer Intimität überwinden können. Sich angstvoll vor dem Nächsten, woher er auch kommt, abzuwenden, zeugt allerdings nicht von gesuchter Gottesnähe. Wer auch immer fragt: Wo bist Du jetzt, Gott?, dem muss man wohl antworten: Dir gegenüber, mein Freund, im Nächsten? Lauf deshalb nicht weg! Fürchte dich nicht! Rühr in an! Ich bin doch auch in dir.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
[…] zu hören war. Die Skepsis Jesu der fremden und zudem noch heidnischen Syrophönizierin gegenüber musste die Frau erst überwinden. Aber auch nach der Überwindung ist nichts von überbordender Freundlichkeit zu spüren. Die […]