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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – Vierter Fastensonntag, Lesejahr B

Der digitale Stammtisch der sozialen Netzwerke ist nicht der beste Ort, um das Innerste der eigenen Seele zu offenbaren. Die Vertrautheit der kleinen Stammtischwelt barg früher immerhin die Chance, dass sich manche nebulöse Halbwahrheit und vorschnelle Parole im bierseligen Dunst verflüchtigte und das Tageslicht erst gar nicht erblickte. Der Raum war oft so klein wie die Gedanken, die darin geäußert wurden und sie blieben dort, schadeten meistens niemandem und hatten im besten Fall einen gewissen Unterhaltungswert, wenn sich die Stammtischbrüder und -schwestern in ihren eigenen Vorurteilen bestätigt selbstgenügsam auf die Schenkel klopfen konnten. Auch eine Gemeinschaft kleiner Geister stärkt das eigene Gemüt. Und im Alltag am nächsten Morgen konnte man unbelastet und höflich ans Tagewerk gehen. Die Spielregeln waren klar, die Münder wie die Herzen offen und die Gedanken frei wie sonst nur selten im Leben. Selbst der krudeste Blödsinn und das vernunftbefreite Vorurteil konnten hier straflos geäußert werden. Die Stammtische der Vergangenheit säuberten die Seelen, sie waren eine Katharsis der Gesellschaft, die so ihren Seelendreck geschützt entsorgen konnte. Der alte Stammtisch war ein Schutzbezirk, der die, die sich um ihn versammelten bisweilen auch vor sich selbst schützte.

Die Welt hat sich weitergedreht, Wissen und Technik sind fortgeschritten – nur der Mensch ist geblieben, was er ist: Ein Wesen voller Vorbehalte und Ängste, die ihn umtreiben und antreiben, die ihm die Ruhe rauben, weil das Leben das ist, was es ist: unsicher. Die Gefahren lauern überall, und vor allem das Fremde ist gefährlich. Unstet treibt es ihn durch die Welt. Sein Innerstes drängt ihn. Allein ihm fehlt ein Ziel, denn die alte Stammtischrunde gibt es nicht mehr. Die rituelle Katharsis des großen Jammerns und Zeterns, der gegenseitigen Selbstvergewisserung und -bestätigung bleibt aus. Dem eichentischernen Schutz beraubt, irren viele nun unbehaust und angstbesetzt durch die Welt. Was raus muss, muss aber raus – sonst zerreißt es den Menschen. Und so findet so mancher Erlösung in den Discus-Foren, Kommentarspalten und Social-Media-Postings der digitalen Welt.

Freilich hat das Internet wenig gemein mit der Vertrautheit der Eckkneipe. Es ist kein geschützter Raum, es ist ein Marktplatz, eine Agora, auf der man seine Botschaften hinausposaunt. Wie in Marmor gemeißelt bleiben sie nun in der Welt und wird wie digitaler Fliegendreck noch in Generationen Zeugnis von einer Diskussionskultur ablegen, in der das Reden das Hören besiegte. Hatern, Trollen und anderen Agitatoren geht es dabei wohl weniger um Sinn, Verstand und Wahrheit. Es werden meist auch keine Argumente benannt. Die Emotion siegt über die Vernunft. Die innere Zerrissenheit braucht ein Ventil. In Ermangelung eines echten Gegenübers, das als Faktum in sich bereits widerständig ist, geht die Aggression ins Leere. Es fehlt die Grenze. Die Katharsis bleibt aus – und so steigert sich manche hashtag-stimulierte Hysterie zu einem Shitstorm im Second Life, die den armen Tropf im First Life, dem wahren Leben nicht nur hilflos und einsam zurücklässt. Weil er sich außerdem auf dem virtuellen Marktplatz echauffiert hat, haben auch alle mitbekommen, wie er denkt. Die Gedanken sind heutzutage nicht mehr frei, sie sind nackt – mit unabsehbaren Konsequenzen. Oh Mensch, würdest du doch wieder dichten und denken, statt in der Timeline des Second Screen eine Welt zu kommentieren, die du doch gar nicht erleben und verstehen kannst, weil du zwischen dich und sie irgendwas mit Medien geschoben hast. Zur Aufrichtigkeit warst du gerufen, der jetzt mit technikinduziertem Nackenschmerz den Kotau vor einem Artefakt des sogenannten Fortschritts macht.

Das Gegenüber prägt den Menschen. Der Partner, die Kinder, das Haustier – die lebenden Wesen fordern Auseinandersetzung und beeinflussen das eigene Handeln. Die Spiegelneuronen verursachen nicht nur parallele Handlungen, sie sind auch an der Bildung der Fähigkeit zur Empathie beteiligt. Wo aber wird der Mensch enden, wenn er das analoge Gegenüber durch einen technischen Assistenten ersetzt, der ihn zunehmend beherrscht. Im Display des Smartphones aber kann sich der Mensch von heute nur noch selbst erkennen, schemenhaft und verdunkelt, ein vernebelter Narziss, dessen Gedankenwelt auf wenige Zoll Bildschirmdiagonale zusammen geschrumpft ist, die ihm ein vorgekautes Wissen liefert, dessen Wahrheitsgehalt er nicht mehr überprüfen kann, weil das kritisch-dichte Denken und Aneignen einer utilitaristischen Verwertbarkeit gewichen ist. Bildung des Inneren ist out, Building des Äußeren ist in. Was zählt schon die Wirklichkeit, wenn doch der Wahn genügt. Und so steigert sich die Hysterie und mit ihr die Angst. Und er muss weiter rufen, laut rufen, immer lauter in dieser digital-autistischen Welt, in der es merkwürdig still ist im Gewirr der verworrenen Stimmen, dem die echten, die wirklichen Gegenüber fehlen, die antworten mit Stimmen aus Fleisch und Blut, mit Emotionen, Gesten und Gebärden, und mit einer Mimik, die die Spiegelneuronen erreicht und Antworten evoziert.

Nichts dient der Wahrheitsfindung so sehr, wie ein Gespräch. Das Gegenüber erprobt die eigenen Gedanken. Es setzt dem eigenen Selbststreben Grenzen. Der geäußerte Zweifel, die Infragestellung, die andere Perspektive fordern heraus und führen zur Klärung dessen, was noch vernebelt war. Nichts kann das echte Gegenüber ersetzen, weil Worte eben nicht nur aus Buchstaben bestehen und alles andere als eindeutig sind. Im Gegenüber spiegelt sich das eigene Selbst. Ohne Du verliert der Mensch sein Ich.

Es ist deshalb kaum verwunderlich, wenn das Ringen um Wahrheit auch in Form von Dialogen dargestellt wird. Man muss nur an die sokratischen Dialoge denken, die Platon überliefert hat. Auch in der Bibel wird das Streben nach Erkenntnis häufig als Dialog dargestellt. Zu den berühmtesten Dialogen gehört etwa das Gespräch zwischen dem Pharisäer Nikodemus und Jesus, das Johannes am Beginn seines Evangeliums beschreibt (Johannes 3,1-21). Ein Teil dieses Gespräches wird im Evangelium vom vierten Fastensonntag im Lesejahr B verkündet.

Nikodemus treibt die Frage um, wer dieser Jesus von Nazareth ist:

Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. (Johannes 3,2)

So eröffnet er das Gespräch, das wohl nicht zufällig in der Nacht stattfindet. Die Nacht schärft die Sinne. Sie schaltet das Flirren der Umwelt aus. Sie fokussiert auf das Gegenüber, dessen Antlitz man im Schein des Feuers oder der Öllampe erkennt. Licht kann man nur auf dem Hintergrund der Dunkelheit erkennen. Wahre Aufklärung braucht diese Konzentration.

Und so entspannt sich zwischen dem suchenden Nikodemus und Jesus ein Gespräch, dass in schwindelnde Tiefen geht, selbst in die Tiefen des Todes:

Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hergab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. (Johannes 3,14-16)

Das Gegenüber muss wissed sein, um die Wahrheit erkennen zu können. Hingegen werden die Worte Jesu dem rätselhaft bleiben, der nicht bereit ist, die Anstrengungen der Wahrheitssuche auf sich zu nehmen. Die Wahrheit Jesu ist nichts für Bildungsbulimiker. Man muss mit ihr ringen, muss sie bezwingen wie einen Berg – eine Anstrengung, die allzu viele scheuen, die aber nie vergebens sein wird, wie Friedrich Nietzsche feststellt:

Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: entweder du kommst schon heute weiter hinauf, oder du übst deine Kräfte, um morgen höher steigen zu können. (Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 860-861)

Für Nikodemus müssen die Worte Jesu herausfordernd gewesen sein. „Sohn Gottes“ – das war für einen Pharisäer als solches noch kein Problem, wird doch nicht nur König David von Gott als „mein Sohn“ angeredet (vgl. 2 Samuel 7,14). Auch das ganze Volk Israel kann als „Sohn Gottes“ bezeichnet werden, wie etwa im Buch des Propheten Hosea:

Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten. (Hosea 11,1)

Herausfordernd aber ist der besondere Selbstanspruch Jesu:

Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. (Johannes 3,17)

„Sohn Gottes“ meint hier offenkundig mehr als eine rein metaphorische Beziehungsdefinition. Das wird im folgenden Satz noch deutlicher:

Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat. (Johannes 3,18)

Jesus ist der einzige Sohn Gottes. Mit ihm ist nichts vergleichbar. Der Glaube an ihn wird zum Gericht, der Mensch wird zu seinem eigenen Richter. Es ist eben wie weiland mit der Schlange des Mose. Die Begebenheit wird im Buch Numeri erzählt. Das Volk Israel wird Opfer seiner eigenen Ängste und Vorbehalte. In bester Stammtischmanier wird der Unmut über die kargen Verhältnisse eines Lebens in der Wüste geäußert:

Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser. Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig. (Numeri 21,5)

Der sich steigernde Unmut macht anfällig. Die darin verborgene latente Angst um die eigene Existenz steigert sich. Sie kriecht wie Schlangen aus der Tiefe empor und würgt das zagende Herz:

Da schickte der Herr Giftschlangen unter das Volk. Sie bissen die Menschen und viele Israeliten starben. Die Leute kamen zu Mose und sagten: Wir haben gesündigt, denn wir haben uns gegen den Herrn und gegen dich aufgelehnt. Bete zum Herrn, dass er uns von den Schlangen befreit. (Numeri 21,6f)

Betend erhält Mose im Dialog mit Gott die Weisung, die zum Heil führt:

Der Herr antwortete Mose: Mach dir eine Schlange und häng sie an einer Fahnenstange auf! Jeder, der gebissen wird, wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht. (Numeri 21,8)

Man muss der Angst ins Auge blicken. Auch die Angst hat ein Antlitz, das seine Dunkelheit und Bedrohung verliert, wenn man sie beim Namen nennt.

Der Pharisäer Nikodemus dürfte diese Erzählung gekannt haben. Jesus setzt das voraus. Er identifiziert im Johannesevangelium sein eigenes Schicksal mit dieser Erfahrung: Der Kreuzestod wird zum Prüfstein des Glaubens. Für die einen wird er unglaublich bleiben, für die anderen ein Fanal der Hoffnung. Die Wahrheit bleibt ein Ärgernis, ein Skandalon, eine Anstrengung. Wer nach wahrhafter Erkenntnis strebt, darf sich dieser Anstrengung nicht entziehen. Die Dunkelheit ist groß und mächtig, das Licht zart und schmächtig, fragil und doch unaufhaltsam für die, die die Mühen nicht scheuen, die kleine flackernde Flamme zu schützen. Licht kann man nur vermehren, wenn man es teilt. Deshalb ist der Dialog die Methode der Erkenntnis, die Mitteilung im Reden und Hören und im Hören und Reden.

Nikodemus verschwindet am Ende des Gespräches im Dunkel der Nacht. Aber der Funke ist entzündet, entflammt durch Gedanken im Spiegel des Anderen wie die von einem Hohlspiegel gebündelten Sonnenstrahlen. Und Nikodemus wird das Licht nicht mehr los. Er wird dem Gekreuzigten, dem Verfluchten wider alle Vernunft die letzte Ehre erweisen – und das in einem überreichen Maß (vgl. Johannes 19,3). Und vielleicht wird er auch den wahren Sinn des Kreuzestodes erkannt haben. Warum sonst sollte Johannes seinen Namen für uns aufbewahrt haben?

Wahre Katharsis wird nur der finden, der die Wahrheit sucht. Und die Wahrheit ist nicht einfach. Sie verträgt keinen Stammtischgeruch und schon gar nicht das Geschrei der virtuellen Foren. Redet und hört – vor allem hört und denkt, denkt, bevor ihr wieder redet. Dann aber redet von der Wahrheit, die euch ergreift und fordert. Ihr Licht sucht neue Dochte, die entzündet werden können Auge in Auge und von Angesicht zu Angesicht.

Dr. Werner Kleine

Author: Dr. Werner Kleine

Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.

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