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kath 2:30 Dies DominiVor nicht allzu langer Zeit war scheinbar eindeutig, welchen Geschlechts ein jedes menschliche Wesen war. Schon ein kurzer Blick kurz nach der Geburt genügte und man meinte zu wissen, dass dort ein Mädchen oder ein Junge die ersten Atemzüge eine hoffentlich langen und glücklichen Lebens tat: Junge oder Mädchen– tertium non datur! Anderes war nicht denkbar. Noch heute heißt es doch in der revidierten Lutherübersetzung von 2017:

„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ (1 Mose 1,27)

Damit ist doch offenkundig alles gesagt – oder? Was glauben Sie denn?

Tatsächlich verhält es sich nicht so einfach, wie die traditionelle Übersetzung vermuten lässt. Übersetzungen sind immer auch Interpretationssache. Dabei werden Übersetzter mitunter von Vorurteilen und scheinbar allgemeingültigen Annahmen beeinflusst. Im konkreten Fall ist es doch die allgemeine Erfahrung, dass in Gottes großer Schöpfung offenkundig nur männliche oder weibliche Menschen als sein Abbild die Erde bevölkern. Schaut man aber in den hebräischen Urtext, wird man überrascht. Denn dort stehen nicht die Substantive für „Mann“ und „Frau“, sondern Adjektive, so dass man eigentlich übersetzen muss:

„Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.“ (1 Mose 1,27)

So gibt die Einheitsübersetzung von 2016 den hebräischen Urtext wieder. Eben nicht einfach binär: als Mann und Frau wurde der Mensch erschaffen, sondern männlich und weiblich.

Die adjektivische Redeweise eröffnet andere Deutungsmöglichkeiten – und die hängen im Hebräischen an einem einzigen senkrechten Strich. Der steht für den Buchstaben „Waw“. Dieser Buchstabe ist gleichzeitig ein Wort und bedeutet „und“. Das Wort „und“ aber hat sprachlogisch viele Funktionen. Es zeigt eine Nebenordnung der so verbundenen Wörter an und hat damit eine differenzierende Funktion (wie bei „du und ich“); es kann aber auch aufzählen und aneinander reihen (wie bei „bring Brot und Butter und Milch mit“). Es kann aber auch Wörter logisch miteinander zu einer beschreibenden Aussage verknüpfen (wie bei „das Haus ist groß und schön“). Die Frage ist also, in welcher Weise das „und“ bei der biblischen Aussage über die Weise der Erschaffung des Menschen zu verstehen ist. Tatsächlich ist im Text nicht von Menschen im Plural, sondern von einem Menschen (im Hebräischen: Ha-Adam). Sprachlich scheint also diese Aussage zu bedeuten, dass der Mensch an sich männlich und weiblich ist. Jeder Mensch trägt beide Aspekte in sich – aber eben nicht im Gleichgewicht. Es ist, als verhielten sich „männlich“ und „weiblich“ wie die beiden Extrempole auf einem Spektrum, in dem das einzelne Individuum irgendwo durch physische Vorgaben, möglicherweise aber auch durch psychische Komponenten eingeordnet wird. So gibt es Menschen, die mehr männlich als weiblich sind und umgekehrt – eben klassisch „Männer“ und „Frauen“. Statistisch zu erwarten ist aber auch, dass – quasi wie in einer invertierten Gaußkurve – einige Individuen in der Mitte zwischen den Polen zu verorten sind – eben divers männlich und weiblich. So funktioniert die Natur. Sie kennt keine Launen, sondern statistische Wahrscheinlichkeiten.

Der Urtext der Heiligen Schrift deckt also die modernen anthropologischen Erkenntnisse. Der Mensch ist nicht entweder Frau oder Mann, sondern in der Regel mehr Mann oder mehr Frau, aber unter Umständen auch divers männlich-weiblich. Das allerdings ist die Ebene des Seins, nicht des Befindens. Als solches ist jeder Mensch erst einmal, wie er ist. Vor allem ist er ein Mensch und als solcher Ebenbild Gottes. Und dem hat es als Schöpfer offenkundig sehr gefallen, die Welt nicht nur schwarz und weiß, sondern sehr bunt mit vielen Farben und Schattierungen zu erschaffen. Eigentlich kann man da einfach nur staunen.

Dr. Werner Kleine

Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 21. Oktober 2022.

Author: Dr. Werner Kleine

Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.

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