Die Pandemie macht das Selbstverständliche zum Außergewöhnlichen. Der Espresso im Lieblingseiscafé, die herzlichen Begrüßungen, die Familienfeiern – was selbstverständlich war, ist mittlerweile nicht nur außergewöhnlich, sondern vieles sogar unmöglich geworden.
An das Selbstverständliche gewöhnt man sich schnell. Freiheit, Reisen, Gesundheit – all das ist für die gewöhnlich, die genug davon haben. Erst wenn es knapp wird mit der Freiheit, den Möglichkeiten zu reisen oder der Mensch erkrankt, wird das Selbstverständliche zum Besonderen. Das gehört für viele, die immer schon am Rand der Gesellschaft stehen, zum Selbstverständlichen ihres Lebens. Wer von Grundsicherung oder Hartz IV lebt, freut sich schon über den Kaffee beim Stadtspaziergang, für den man vorher die letzten Cent zusammenkramen muss. Was für die einen selbstverständlich ist, ist für viele jetzt schon außergewöhnlich. Was glauben Sie denn?
Dass das Selbstverständliche durch ein Virus zum Außergewöhnlichen geworden ist, erleben viele als Zumutung. Einem inneren Reflex folgend setzen Abwehrreaktionen ein. Dann kann man leidenschaftlich über vieles streiten – zum Beispiel über den Schulbesuch in pandemischen Zeiten. Eltern, die im Homeoffice sitzen, verfügen oft über personelle und technische Möglichkeiten, sich das Homeschooling zu leisten; Alleinerziehende, die in prekären Arbeitsverhältnissen ums Überleben kämpfen, wissen nicht, wie dann ihre Kinder betreut werden sollen. Das Selbstverständliche ist immer eine Frage der Perspektive.
Christian Drosten hat in seiner Schillerrede einen pandemischen Imperativ formuliert, der von den einen sofort als freiheitseinschränkende Zumutung, von anderen aber als ethische Handlungsmaxime gedeutet wurde:
„Handle in einer Pandemie stets so, als seist du positiv getestet und dein Gegenüber gehörte einer Risikogruppe an.“
Auch hier ist es eine Frage der Perspektive: Wer auf einer Intensivstation nach Luft ringt, wird das Selbstverständliche in diesem Satz erkennen, was für diejenigen, die in den kommenden Wochen auf Glühweinstände und Weihnachtsmarktfreuden verzichten müssen, als übergriffe Beschränkung ihrer freiheitlichen Grundrechte erscheint.
Selbstverständlich außergewöhnlich ist der Monat November schon seit Generationen. Nach einem Sommer voller Leben und einem goldenen Herbst schlagen die Novembernebel und die früh einbrechende Dunkelheit auf das Gemüt. Der Tod steht auf dem Programm. Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag und Volkstrauertag führen unbarmherzig die eigene Endlichkeit vor Augen. Das Leben ist alles andere als selbstverständlich. Inmitten eines Jahrmilliarden alten Universums erscheint die Zeitspanne eines menschlichen Lebens als Windhauch. Das ist wohl auch dem Psalmisten im bewusst, wenn er betet:
„Wie Gras sind die Tage des Menschen, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; der Ort, wo sie stand, weiß nichts mehr von ihr.“ (Ps 103,15f)
Gerade in dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, die letztlich als umfassende Vergänglichkeit erscheint, tritt aber der Wert des Lebens zutage, so dass der Beter jubeln kann:
„Preist den HERRN, all seine Werke, an jedem Ort seiner Herrschaft! Preise den HERRN, meine Seele!“ (Ps 103,22)
Licht wird erst auf dem Hintergrund der Dunkelheit leuchtend, Gesundheit erst aus der Möglichkeit der Krankheit wertvoll, Leben erst mit Blick auf die Sterblichkeit außergewöhnlich. Erkennt ihr nicht, dass das Selbstverständliche eigentlich immer schon außergewöhnlich ist? Pflegt es, hegt es, genießt es. Achtet aufeinander und nutzt die Zeit. Tote haben keine Zeit mehr. Nutzen wir sie, um das Außergewöhnliche zu entdecken. Das Leben nämlich ist vieles, nur nicht selbstverständlich.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 20. November 2020
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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