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kath 2:30 Dies DominiEs ist Gerichtstag. Zeit der Entscheidung. Kein Zahltag und kein Wahltag, wohl ein Tag, an dem abgewogen wird, ob ein Mensch dem Anspruch gerecht wurde, Mensch zu sein. Am heutigen Abend mit dem Sonnenuntergang beginnt im Judentum Rosch ha-Schana, der jüdische Neujahrstag. Dann beginnt im Judentum das Jahr 5781 nach der Erschaffung der Welt. Rosch ha-Schana ist das „Haupt des Jahres“ – ein Festtag, der auch in Zeiten der Corona-Pandemie nicht ausfällt, aber doch wie vieles andere auch anders gefeiert wird, als es den gewohnten Traditionen entspricht. Es ist Zeit, voranzuschreiten, in dem man zurückblickt. Was glauben Sie denn?

Die Zukunft ist immer ungewiss. Allein die Vergangenheit ist bekannt. Aus ihr kann man lernen für das, was kommen mag. Deshalb ist Rosch ha-Schana auch ein Gerichtstag. Traditionen zu erklären, die nicht die eigenen sind, ist heikel. Der Tag des Gerichtes ist aber auch für Christen eine stete Herausforderung, die in der christlichen Tradition so eng mit dem Judentum verbunden ist, dass es erlaubt sein mag, wenn dieser Gedanke hier aufgegriffen wird. Es heißt im Traktat Rosch ha-Schana des Talmud, dass an diesem Tag des Gerichtes drei Bücher geöffnet würden. Im ersten sind die Gerechten eingetragen, die das „Siegel des Lebens“ erhalten, im zweiten die ganz Bösen, die mit dem „Siegel des Todes“ bezeichnet werden und im dritten die Mittelmäßigen, die sowohl Gutes wie Schlechtes vorweisen können. Rein statistisch gesehen wird das dritte Buch wohl das umfangreichste sein, denn gemäß der Gaußschen Normalverteilung finden sich die Extreme „Sehr gut“ und „Ungenügend“ eher selten, während sich das Gros im Bereich zwischen „Befriedigend“ und „Ausreichend“ tummelt. Das reicht in der Regel für eine Versetzung. Die allermeisten dürften sich also im Gericht keine Sorgen machen, solange die berechtigte Hoffnung besteht, dass auf der Haben-Seite nur ein wenig mehr als auf der Soll-Seite steht. Dinge aber, die man nicht getan hat, stehen nie auf der Haben-Seite. So ist es besser, mit gutem Anliegen falsch zu handeln, als gar nicht zu handeln. Letzteres könnte nämlich ein Fall unterlassener Hilfeleistung sein. Nicht zu handeln ist also nie eine gute Option …

Bemerkenswert ist nun, dass auch Christen diesen Gerichtsgedanken kennen. Wer die Offenbarung des Johannes liest, wird die Verwandtschaft mit der jüdischen Tradition erkennen. Dort ist zu Beginn von dem Buch mit sieben Siegeln die Rede, das über und über beschrieben ist, innen wie außen (Offb 5,1). Am Ende der Offenbarung des Johannes wird Gericht gehalten. Dann werden die Bücher, die die Menschen mit ihrem Leben geschrieben haben, mit dem Buch des Lebens verglichen (Offb 20,12). Das Bild ist klar: Im Buch des Lebens sind alle nur denkbaren Optionen enthalten, die Menschen je entfalten könnten. Gottes Allwissenheit ist so groß, dass er auch die Dinge kennt, die hätten geschehen können, aber nie getan wurden. Man darf die Allwissenheit des Ewigen eben nicht zu klein denken. Jeder Mensch hingegen schreibt in sein Lebensbuch in aller Freiheit nur eine einzige Version von vielen möglichen auf. Die Frage ist nur, wie nah er in seinem Leben dem Ideal kommt – und ob da überhaupt Geschichten des Lebens stehen.

Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute wird Leben geschrieben. Heute, jetzt und hier, wird getan oder vertan worauf es ankommt. Wenn in Moria ein Flüchtlingslager brennt, wenn ein Virus dazu führt, dass Existenzen gefährdet sind, wenn in der Nachbarschaft Alte und Kranke einsam sind, wenn die Schwachen und Bedürftigen aus dem Blick zu geraten drohen, dann kommt es für jede und jeden einzelnen darauf an, hinzuschauen und zu handeln – mit dem Blick zurück nach vorn. Man kann aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Nicht zu handeln und wegzuschauen aber ist keine Option! Schana tova – das Kommende möge gut werden. Wir alle haben es in der Hand!

Dr. Werner Kleine

Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 18. September 2020

Author: Dr. Werner Kleine

Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.

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