Dies Domini – Fest Kreuzerhöhung
Wissend geworden, nicht unbedingt weise – so versucht der moderne Mensch seines Lebens Herr zu werden. Weil Wissen Macht ist, versucht er Wissen zu hamstern. Sein Prinzip ist das sola scientia – allein das Wissen, das, was ihm Augen, Mund und Hände, Nase und Ohren vermitteln. Der Reiz ist es, der zählt. Und der Reiz wird zur Wirklichkeit erklärt. Wo der Weise mit Sokrates wusste, dass er nichts weiß, wird jetzt der Sinnenreiz zum alleinigen Erkenntnisgrund erhoben. Was sich dem Reiz-Reaktionsschema entzieht, wird einfach als „Nicht erkennbar“ deklariert. Der dem Reiz erliegende Mensch sonnt sich dann im Licht einer vermeintlichen Vernunft, die die Sehnsucht nicht mehr kennt, wirklich weise zu werden. Wäre der wissende Mensch wirklich weise, er würde nicht vorschnell urteilen. Die Weisheit kennt den Zweifel. Die Weisheit braucht den Zweifel, weil er es ist, der sie nicht ruhen lässt. Es ist ja gerade der Zweifel, der fragt, ob die Sinne sich nicht täuschen lassen; ob das was scheint, auch ist. Der Zweifel weiß um die Notwendigkeit der Deutung des Reizes, der Kritik, der Reflexion. Der Zweifel, der zur Weisheit führt, weiß deshalb, dass die Wirklichkeit nicht einfach beschreibbar ist. Zweifel und Weisheit sind die Lehrmeister der Mythen und Metaphern, der Symbole und Seme, dieser Zeichen der Sprache, die doch selbst nicht das Bezeichnete sind, sondern es lediglich bedeuten. Und Bedeutung erhält nur das, was den Menschen berührt. Der moderne Mensch mag so viel wissen, wie keine Menschheit vor ihm. Aber die Evolution vom homo sapiens, dem weisen Menschen, zum homo sciens, dem wissenden Menschen, führt in ein existentielles Dilemma: weil der wissende Mensch nur dem Reiz der Sinne vertraut, kann er nicht mehr an eine Heimat glauben, die sich dem äußeren Schein entzieht. Er vermag nicht mehr die Zeichen zu deuten, die ihn, als er noch weise war, erkennen ließen, dass der Reiz nicht alles ist, dass hinter dem Sichtbaren mehr ist, dass ein Urgrund ihn trägt. Und so schwebt der wissende Mensch auf einer kleinen, unscheinbaren, ja banalen blauen Kugel durch die Dunkelheit eines Himmels, den er längst verloren hat, weil er mit Teleskopen sucht, was er doch nicht finden kann: den Ursprung allen Seins, die Singularität, die Einheit, die er mit wissenschaftlicher Exaktheit seziert und in ihre Einzelteile zerlegt hat – unfähig, den Sinn zu erkennen.
Ach, Wissender, wann fängst du an, zu zweifeln? Denn es ist der Zweifel, die Selbstinfragestellung, die den Beginn der Erkenntnis markiert. Dem cartesianischen
Cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich.
geht immer noch das
Dubito, ergo cogito – ich zweifle, also denke ich.
voraus.
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Dies Domini – 23. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Die Täuschung des Zustandes absoluter Freiheit genießt der Mensch nur wenige Jahre. Die Entdeckung der eigenen Möglichkeiten, die Freiheit von Verantwortung, die Erkenntnis des eigenen Selbst – all das wird den weiteren Lebensweg prägen, zum Guten wie zum Schlechten. Denn nicht jeder erlebt diese Illusion eigener Mächtigkeit; für nicht wenige wird diese Zeit eine Zeit der schlechten Erinnerungen, der Ohnmacht und des Versagens sein. Trotzdem wird diese Zeit oft glorifiziert, diese Zeit der Jugend, in der alles möglich schien und der ungeliebte Schutz der Eltern einen Raum der Sicherheit gewährte, die den Schein der Freiheit erst ermöglichte.
Soziologische Studien versuchen den Zeitraum der Jugend immer wieder neu zu definieren. Oft wird der Definition der Faktor wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Elternhaus zugrunde gelegt. Dann kann es schon einmal sein, dass die Jugend erst mit 29 Jahren oder später endet. Faktisch aber wird man sagen müssen, dass die Jugend im Sinne der Individuation, also der Selbstfindung, meist mit dem Ende der Schulzeit zusammen fällt. Der Beginn eines Ausbildung oder eines Studiums, früher auch der Wehr- oder Zivildienst, setzen der vermeintlichen Freiheit nicht nur ein jähes Ende; häufig ist er auch mit einem Wechsel der Beziehungen verbunden. Die alten Freundschaften der Jugend lösen sich auf, weil die Bezugsgruppen sich ändern. An die Stelle der Schulklasse tritt das universitäre Seminar, an die Stelle der Jugendgruppe der Ausbildungsgang. Neue Leute werden wichtig. Auch Mobilität ist angesagt, denn wer fortkommen will, muss flexibel sein. Die Geburtsstadt wird zum Ort der Erinnerung in einer Zeit, in der man der Erwerbstätigkeit folgend an neuen Orten Wohnsitz nimmt.
Die Jugendzeit dürfte also jenseits aller berechtigten soziologischen und psychologischen Definitionen in Zeiten des G8-Abiturs mit etwa 18 Jahren beendet sein. Faktisch dauert das scheinbare Freiheitserleben damit wohl nicht mehr als 3-4 Jahre an – 3-4 Jahre, die prägend für das weitere Leben sein werden. Später wird man sich an diese kleine Lebensspanne intensiver Emotionen mit Wehmut erinnern – als wenn nach 3-4 Jahren das Leben vorbei wäre. Es gibt deshalb kaum eine Institution oder Vereinigung, die nicht ihr zukünftiges Heil in der Jugendarbeit sieht. Kirche und Parteien, Gewerkschaften und Umweltschutzorganisationen, Sportvereine und Hilfsdienste – alle sind bestrebt, die Jugend zu erreichen. Die Etats der Jugendarbeit sind oft so gut ausgestattet, dass man den Eindruck gewinnen könnte, danach käme nichts mehr.
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Dies Domini – 22. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Es gibt Legenden, die halten sich hartnäckig, obwohl ihnen jede Grundlage fehlt. Die standhafte Wiederholung und redundante Behauptung schafft eine Wirklichkeit, die es gar nicht gibt. Im Mittelalter war es die Behauptung der sogenannten Konstantinische Schenkung. Mit dieser Legende, die auf einer nachweislich um das Jahr 800 n.Chr. gefälschten Urkunde beruhte, behaupteten die Päpste ihren Anspruch auf das gesamte ehemalige weströmische Reich. Die notorisch behauptete Echtheit hatte tiefgreifende politische Folgen; den Investiturstreit, die weltliche Macht der Päpste, aber auch die sixtinische Kapelle – es hätte sie ohne dieses Constitutum Constantini, die vermeintliche Schenkungsurkunde nicht gegeben.
Ähnlich verhält es sich mit einem Brief, der im 12. Jahrhundert auftauchte. Er sollte angeblich der Feder des Priesterkönigs Johannes entstammen – einer mythischen Figur, die angeblich als Regent ein großes christliches Reich in Ostasien beherrscht haben soll. Dieser Brief, der ebenfalls als Fälschung enttarnt wurde, war bis in das 17. Jahrhundert hinein entscheidend für mehrfache Expansionsversuche des christlichen Abendlandes nach Osten.
Ende des 19. Jahrhunderts war es ein weiterer Schwindel, der – obschon er relativ schnell aufgedeckt wurde – verheerende Folgen für das gesellschaftliche und friedliche Zusammenleben in Europa hatte. Ein gewisser Léo Taxil bezichtigte die Freimaurerei nicht nur satanischer Riten. Zusammen mit den ebenfalls als Fälschung entlarvten Protokollen der Weisen vom Zion, die den Juden eine Verschwörung zum Zwecke der Weltherrschaft unterstellten, wurde eine tiefgreifende Angst vor einer neuen, unüberschaubaren Weltordnung geschürt. Die kruden Behauptungen dieser Intrigen zeitigten – obschon schnell ihre Falschheit enthüllt wurde – menschenverachtende Folgen; sie bildeten auch ein Fundament der nationalsozialistischen Ideologie, die das Ziel der Ausrottung der vermeintlichen Verschwörer verfolgte und ihre furchtbare Konsequenz in Auschwitz fand.
Das sind nur drei Beispiele von Legenden, die – obwohl ihnen jede faktische Grundlage fehlt – immense Konsequenzen für Geschichte und Gesellschaft gezeitigt haben. Man fragt sich unwillkürlich, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen in Massen auf diese Fiktionen und Fälschungen hereinfallen konnten. Ein Grund liegt sicher in der Präsentation der Behauptungen. Sie wurden in Form emotionaler Geschichten erzählt. Dabei hatten diese Fiktionen – wie der italienische Semiotiker Umberto Eco feststellt – einen Vorteil:
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Dies Domini – 21. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Nein, es hatte keine Änderung seiner Substanz gegeben. Es war immer noch von kristalliner, mineralischer Klarheit. Es hatte sein Innerstes bewahrt auf dieser langen Reise. Äußerlich hatte es sich wohl verändert, war abgeschliffen worden von den Gewalten des Wassers, geschmirgelt von den zahlreichen großen und kleine Kollisionen auf dem Weg vom Berg ins Meer. Es hatte gelagert in den Untiefen des Flusses, war mitgerissen worden von den Fluten des Schmelzwassers, hatte in der Strömung der Flussmitte Geschwindigkeit aufgenommen, die sie an den Rand gespült wieder eingebüßt hatte. In den Zeiten niedriger Pegel hatte es sogar die Sonne gesehen. Kinder hatten aus ihm Burgen gebaut. Man konnte etwas mit ihm anfangen. Und jetzt, jetzt sank es – nicht Staub, nicht Stein – als Sediment zu Boden, um irgendwann durch die Gewalten des Erdinnern wieder emporgehoben zu werden. Vielleicht wurde aus ihm das, was es schon einmal war: ein Fels – scheinbar unerschütterlich. In seinem Innern hatte es das Wissen um seine Bestimmung aufbewahrt: Fels zu sein. Und jetzt, zermahlen zu einem Korn von 0,063 bis 2 mm Größe, war es immer noch, was es sein sollte: ein Fels. Vom Fels genommen und zum Fels bestimmt. Was war ein Fels anders als fester, gepresster Sand.
Wer je die Erhabenheit gebirgiger Felsen betrachtet hat, vermag sich kaum vorzustellen, dass die vor Augen stehende Unerschütterlichkeit vorläufig ist. Kein Fels, der nicht zu Sand werden wird. Es ist gerade die unerschütterliche Festigkeit, die ihm zum Verhängnis wird. Er kann den Gewalten, die an ihm zerren, nicht ausweichen. Wind und Wetter verändern ihn. Und doch bewahrt seine mineralogische Struktur die Festigkeit auf.
Sand zu werden ist die Bestimmung des Felsen, sein Schicksal, dem er nicht ausweichen kann. Man mag Häuser besser auf Felsen bauen, als auf Sand. Aber diese Sicherheit ist nur vorläufig. Das Innere des Felsens kann morsch sein. Risse können seine Stabilität gefährden. Eindringendes und gefrierendes Wasser wird ihn sprengen. Wer aber ein Haus auf einen Felsen baut, beschützt auch den Felsen. Fels, bedenke also, was du bist und wozu du werden wirst: Sand.
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Israel ist ein Land, das den drei abrahamitischen Religionen heilig ist. Juden, Christen und Muslime verbinden mit diesem Land nicht nur die Orte ihrer heiligen Geschichten; für Juden und Muslime ist Israel auch ein Land der Verheißungen. Dabei ist die Geschichte Palästinas und Israels von alters her immer auch von Konflikten geprägt, die bis in unsere Zeit reichen.
In einem via Skype geführten Gespräch erörtern der in Jerusalem lebende und arbeitende Alttestamentler Till Magnus Steiner und der Wuppertaler Neutestamentler Dr. Werner Kleine die theologischen Dimensionen, die auch heute noch im Hintergrund der Ereignisse in Palästina und Israel stehen. Es sind die alten, biblischen Fragen um den Tempel in Jerusalem, die Hoffnung auf den Messias aber auch die Frage, was überhaupt „heiliges Land“ bedeutet, die immer noch aktuell sind. Es wird deutlich: Israel trägt eine Verheißung in sich, eine Verheißung des Friedens für alle Völker.
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In Episode 33 sprechen Dr. Werner Kleine und Till Magnus Steiner über den Konflikt im Heiligen Land. Sie beleuchten das Problem aus einer theologische, biblischen Sicht.
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Dies Domini – 20. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Die Welt ist voll von schönem Schein. Verpackungen gaukeln großen Inhalt vor, wo nur kalte Luft ist. Die Behaglichkeit des eigenen Heims vermittelt Sicherheit in einer komplexen Welt. Mit Betroffenheitsaktionismus kaschiert man angesichts der vielen Konflikte in der Welt die eigene Ohnmacht. Und nicht selten vernebeln wohlfeile Worte eine unliebsame Wirklichkeit – und das nicht nur in der Politik.
Der Mensch neigt offenkundig dazu, das Unliebsame, das Gefahrvolle, das Unschöne auszublenden. Das ist in gewissem Sinn sogar existentiell notwendig. Die Gefahr bedroht die eigene Existenz. Die Wahrnehmung der Gefahr war für die frühen Menschen lebensnotwendig. Diese Gefahren waren aber unmittelbar und real gegenwärtig. Sie erforderten eine sofortige Reaktion. Der Körper setzt Adrenalin frei, das entweder Flucht oder Angriff ermöglicht.
Der technische Fortschritt bringt es nun mit sich, dass die Krisen der Welt, von denen die Altvorderen möglicherweise nie, bestenfalls nach Wochen oder Monaten Kunde erhalten haben, in Echtzeit über Glasfaserkabel die Wohnzimmer erreichen. Der Genius des modernen Menschen mag die Technik beherrschen, nicht aber die von der Amygdala gesteuerten archaischen Reaktionsschemata, die immer noch im Zentrum des menschlichen Gehirns die ehemals existenzerhaltenden Funktionen steuert. Und so lösen die verstörenden Bilder und Nachrichten Reaktionen der Angst aus. War diese Angst früher segensreich, weil sie den Menschen in Stand setzte, auf eine real gegenwärtigen Gefahr angemessen zu reagieren, so geht sie heute ins Leere. Die eigentliche Bedrohung ist zu weit weg. So wächst die Angst, weil sie nicht abreagiert werden kann. Die Angst ist virtuell. Wer nicht fliehen kann, weil er nicht zu fliehen braucht, und wer nicht kämpfen kann, weil er nicht zu kämpfen braucht, muss andere Kanäle finden, seine Ängste abzuleiten. Und so entwickelt der Mensch virtuelle Abwehrstrategien, um die Angst fernzuhalten. Der schöne Schein ermöglicht das moderne Leben; das moderne Leben braucht den schönen Schein.
Der schöne Schein treibt manchmal skurrile Blüten. Gerade die medialen Sommerlöcher schwemmen sie nach oben, um die eigene Hohlheit zu füllen. Stammtische leben von den Architekten potiemkinscher Dörfer ohne Fundament. Und auch in den viel gelobten sozialen Netzwerken und Kommentarfunktionen von Online-Zeitungen wird deutlich, wohin die Segnungen modern-digitaler Kommunikation führen: Jeder darf – Gott lob! – sagen, was er denkt. Leider zeigt nicht jeder in dem, was er sagt, dass er gedacht hat.
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Wer betet, muss handeln!
Die Zeiten waren schon immer rau. Der Mensch erlebte sich den natürlichen Gewalten ausgeliefert. Als Wesen, das mit Verstand begabt ist, suchte er von Beginn an, die Welt zu verstehen. Schon früh versuchten Mythen, in denen Urmütter und –väter die Welt erschufen und Götter das menschliche Schicksal prägten, das Unheimliche fassbar zu machen.
Je mehr der Mensch die Welt verstand, desto mehr entdeckte er, dass die Welt berechenbar und verlässlich war. Mathematik und Physik führten schon die alten Griechen zu der Frage nach der Metaphysik; also nach dem, was hinter der sichtbaren Welt steht und sie doch im Innersten zusammen hält. So sehr aber der Mensch auch um das Verstehen der Schöpfung rang, so sehr erlebte er sich ihr ausgeliefert. Aller Berechenbarkeit zum Trotz wurde ihm angesichts der Naturgewalten bewusst, wie klein seine Existenz wirklich war.
So fing der Mensch an, zu beten, die Götter mussten gnädig gestimmt werden. Er hielt Riten und Kulte ab und brachte Opfer dar. Der Mensch unternahm viel, um die Götter zu manipulieren. Doch immer wieder musste er feststellen, dass die Götter sich nicht vorschreiben ließen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Immer wieder führten sie dem Mensch seinen Grundirrtum vor Augen: Nicht du Mensch sagst, was geschieht.
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Dies Domini – 19. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Das Auge gehört sicher zu den komplexesten Organen, die die Evolution hervorgebracht hat. Die Komplexität dieses Organs, die Umwandlung photonisch-physikalischer Impulse in elektrische Signale, die das Gehirn als Bilder wahrnimmt, ist für sich genommen schon eine Herausforderung. Der Mensch ist zwar in der Lage, die optischen Signale als solches in Film und Foto zu fixieren. Die vitale Qualität des Reiz-Reaktions-Schemas und die menschliche Fähigkeit, die optischen Reize mit Bedeutung zu versehen, ist bisher nicht künstlich zu reproduzieren. Nicht selten ist es daher gerade die Komplexität des Auges, die angesichts dieses Meisterwerkes der Evolution vor die Frage führt, ob ein solches Organ wirklich nur ein Produkt des Zufalls sein kann.
Das Auge versetzt den Menschen in die Lage, die Farben und Formen der Welt wahrzunehmen. Er erkennt die Vielfalt und Buntheit der Welt, in der er seinen Platz finden muss. Sehen und Erkennen werden nicht umsonst in der deutschen Sprache synonym verwendet. Allein der Aspekt des Erkennens zeigt schon, dass „Sehen“ nicht nur ein optisches Phänomen ist. Man muss nicht physikalisch sehen können, um Erkenntnis über die Vielfalt der Welt zu erlangen.
Um so erstaunlicher ist es, dass viele Menschen – nicht nur in der Gegenwart – offenkundig nur zu einem Denken in Schwarz-Weiß-Mustern in der Lage sind. Grauabstufungen und Buntheit sind wohl zu komplex und überfordern das eigene, selbstgestrickte Weltbild. Eine Welt, die in Freunde und Feinde aufgeteilt ist, ist leichter zu beherrschen als eine differenzierte Welt, in der man seinen eigenen Standpunkt immer wieder selbst in Frage stellen muss. Eine bunte Welt fordert intensive Kommunikationen, ständige neue Selbstvergewisserungen, weil nichts so scheint, wie es eben noch aussah. Eine bunte Welt fordert ständige Evolution, Weiterentwicklung des Selbst. Das ist anstrengend und herausfordernd. Manch einer möchte da doch lieber weiter bei seinen einfachen Denkmustern bleiben.
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Die israelische Identität und die Unabhängigkeitserklärung
von Till Magnus Steiner
Welcher Religion jemand angehört, definiert in Israel, vielleicht mehr noch als in anderen Ländern, die Identität einer Person – und die Religion der Mitglieder der Gesellschaft definiert die Identität des Staates. In der israelischen Gesellschaft wird immer wieder heftig darüber diskutiert, ob Israel ein jüdischer Staat ist bzw. sein soll und was in diesem Falle das Adjektiv „jüdisch“ überhaupt bedeute. Nicht jeder Israeli ist Jude und nicht jeder Jude ist Israeli. Das Judentum ist sowohl eine Religion als auch ein Volk und das Adjektiv „jüdisch“ bezeichnet sowohl eine Religionszugehörigkeit als auch eine Volkszugehörigkeit – ein israelischer Freund von mir bezeichnet sich selbst als atheistischer Jude und sieht darin keinen Widerspruch. Aber das Adjektiv „jüdisch“ stellt für den Staat Israel seit der Staatsgründung notwendigerweise eine Herausforderung dar.
Die Unabhängigkeitserklärung Israels vom 14. Mai 1948 beginnt mit der klaren historischen Aussage: „Im Land Israel entstand das jüdische Volk“ – und der gesamte folgende Text rekurriert auf die Geschichte des Judentums. Aber über die Frage, ob in der Unabhängigkeitserklärung Gott genannt werden darf bzw. ob ein Gottesbezug Bestandteil des Dokuments sein soll, entbrannte ein heftiger Streit. Die religiösen Vertreter bestanden darauf, dass Gott in dem Dokument zumindest erwähnt wird, während die sozialistisch-säkularen Vertreter strikt dagegen waren. Ahron Zisling, ein Vertreter der linken Arbeiterpartei, sagte sehr deutlich: „Ich kann kein Dokument unterschreiben, dass sich in irgendeiner Art auf einen Gott bezieht, an den ich nicht glaube!“ Der Streit zwischen den beiden Lagern wurde durch einen Kompromißvorschlag gelöst. Man einigte sich auf die Bezeichnung „Fels Israels“ und formulierte den Beginn des Abschlußparagraphen folgendermaßen: „Mit Zuversicht auf den Fels Israels setzen wir unsere Namen zum Zeugnis unter diese Erklärung, […]“. Zwar nahm man damit die traditionelle und biblische Sprache des Judentums auf, aber zugleich verblieb man in einer Bildsprache, die vom Leser selbst entschlüsselt und mit Sinn gefüllt werden muss.
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