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kath 2:30 Dies DominiDies domini – Hochfest Christkönig, Lesejahr B

Die Wahrheit liege im Auge des Betrachters – so jedenfalls weiß es der Volksmund. Sicher ist es nicht so, dass alles, was das Volk als so von sich gibt, von sich aus schon wahr wäre. Wahrheit ergibt sich ebenso wenig aus Mehrheitsbeschlüssen, wie wissenschaftlich Erkenntnisse aus demokratischen Prozessen hervorgehen. Nicht die Mehrheit bestimmt, was wahr ist; vielmehr versammelt sich im Laufe der Zeit die Mehrheit – oder, wie manche heutzutage abfällig bemerken, der Mainstream – hinter der Wahrheit, die sich schlussendlich als evident erweist. Sicher kann kein Zweifel daran bestehen, dass bisweilen hart um die Wahrheit gerungen werden muss. Sie ist an sich von flüchtigem Wesen. Man kann sie nicht einfach besitzen und für sich exklusiv in Anspruch nehmen. Was wahr ist muss zu guter Letzt eben auch wirklich sein, eben evident. Die Wirklichkeit ist der Lakmustest jeder behaupteten Wahrheit. Eine Wahrheit, die den Wirklichkeitstest nicht besteht, ist eine Chimäre, ein Scheingebilde, das bestenfalls innerhalb abgeschlossener Systeme funktioniert, nicht aber darüber hinaus.

Nun vertritt gerade die Kirche den Anspruch, für die Wahrheit zu stehen. Damit geht ein Anspruch daher, im Besitz der sogar absoluten Wahrheit zu sein. Kann das aber überhaupt gehen? Kann ein Mensch überhaupt die Wahrheit erfassen? Gesetzt den Fall, Gott ist – und schon hier muss die Einschränkung erlaubt sein, dass das Axiom, die Grundannahme, Gott sei, eben ebensowenig bewiesen werden kann, wie die Grundannahme, er sei nicht –, dann wäre der eine und wahre Gott so etwas wie die absolute Wahrheit. Wäre also ein Mensch in der Lage, diesen Gott in seiner Ganzheit zu fassen? Wäre das möglich, so wäre dieser Mensch größer als Gott und Gott wäre nicht der, als der er geglaubt wird. Weil Gott Gott ist, ist er nicht nur nicht zur Gänze erfassbar. Er ist für Menschen an sich nicht zugänglich, seine Größe überwältigt den Menschen. Davon spricht nicht nur die uralte, auf Mose zurückgehende Erkenntnis, dass Gott für Lebende nicht zu schauen ist, wenn dieser dem Mose auf dessen Wunsch, doch die Herrlichkeit Gottes zu sehen, antwortet:


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kath 2:30 Dies DominiIm Wein liegt Wahrheit. In der Wurst auch. Wenn es um sie geht, geht es immer ums Ganze. Wer glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, scheut den Zweifel; noch weniger verträgt er Kritik. Zweifellos kann für solche Menschen deshalb immer nur die eigene Meinung zählen, die ja – wer könnte daran zweifeln – mit der Wahrheit nachgerade identisch ist. Jeder, der die eigene Meinung anfragt, kann deshalb nur ein Lügner sein oder auch – da muss man schon ganz genau sein – eine Lügnerin! Was glauben Sie denn?

Tatsächlich ist die Wahrheit von flüchtigem Wesen. Man mag zwar glauben, sie erfasst zu haben; tatsächlich aber hat man bestenfalls einen kleinen Zipfel in der Hand. Das ist nicht schlimm – wenn nur dieser Anspruch auf Zweifellosigkeit nicht wäre. Dabei ist es der Zweifel, der immer wieder den Antrieb gibt, sich mit dem, was man verstanden hat, eben nicht zufrieden zu geben.


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kath 2:30 Dies DominiDies domini – Vierter Fastensonntag, Lesejahr B

Die Nacht ist wahrheitstauglich. Wenn der Sinn äußeren Sehens behindert ist, schärfen sich nicht nur die anderen Sinne. Man hört und riecht nicht nur besser, der Tastsinn ist nicht nur sensibler; der Verlust der Macht der Bilder, die die Aufmerksamkeit im hellen Taglicht absorbiert und nur allzu oft zu Fehlschlüssen verleitet, macht den Geist frei für das innere Sehen. Es ist schon bemerkenswert, wie oft in der Bibel erwähnt wird, dass es Nacht ist. Schon die Schöpfung beginnt mit der Nacht, heißt es doch:

Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Und Gott schied das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag. (Genesis 1,3-5)

Die Nacht gebiert den Tag. Die Nacht ist schöpferisch. Das Licht wird aus dem Dunkel erschaffen. Es wundert daher nicht, dass viele bedeutende Ereignisse mit der Nacht verbunden sind. Die Befreiung Israels aus Ägypten beginnt nächtens (vgl. Exodus 2,6-8), es wird Nacht sein, wenn Jesus mit den Seinen das letzte Abendmahl halten wird und das Heilsgeschehen seinen Lauf nimmt und es ist der Schutz der Nacht, in dem Leben aus dem Tod geschieht. Die Nacht ist der Ort der Offenbarung, wenn keine irdischen Bilder den Geist ablenken und stören. Die Nacht ist der Ort der Erkenntnis und der Einsicht.


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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – 26. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A

Viel ist in diesen Tagen von Umkehr die Rede – und das nicht nur, weil die Kleruskongregation des Vatikan am 20. Juli 2020 die Instruktion „Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche“ veröffentlicht hat. Zur Umkehr wird auch gerne aufgerufen, wenn die Diskussionen in der Kirche zu Stellungskämpfen geronnen sind, die keinen schöpferischen Fortschritt mehr erhoffen lassen. Gefangen in den je eigenen Schützengräben werden zwar immer schwerere Geschütze aufgefahren, die die Gegenseite zur Kapitulation zwingen sollen; in der Kirchensprache wird dann auch gerne die Forderung zur Umkehr ausgesprochen, die selbstverständlich immer der Gegenseite gilt. Die anderen sollen umkehren und gefälligst ihre Positionen räumen, die wahlweise als antiquiert, verstaubt, nicht mehr katholisch oder modernistisch bezeichnet werden. Wie in Stellungskämpfen übrig, wird es so freilich keine Sieger, dafür viele Verlierer geben, Verwundete und Verletzte auf allen Seiten. Eine verheerende Verwüstung ist das, was übrig bleibt. Das Leben flieht solchen Situationen, in denen immer nur die anderen umkehren sollen. Man selbst möchte schließlich bleiben, wie man ist. Fatalerweise wähnen sich alle auf allen Seiten im Besitz einer Wahrheit, die sich aus dem Schlachtfeld ohrenbetäubender Argumente längst ins Niemandsland zurückgezogen hat. Die Wahrheit ist halt ein verschwebender Hauch. Wer sie zu besitzen glaubt, hat sie wohl schon längst verloren. Wahrheit kann man nicht haben, nur hören, ahnen, sich ihr nähern. Die Gerechten wussten das zu allen Zeiten, verloren sie ihre Unschuld doch immer dann, wenn sie der Wahrheit Recht verschaffen wollten und ihre Autorität in dem Moment zur Gewalt wurde, wo sie die Größe der Wahrheit auf das Format zu kleiner Herzen schrumpften. Das ist wohl der Moment, in dem Gott, der Herr, in der ersten Lesung vom 26. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A durch seinen Propheten Ezechiel gegen sein eigenes Volk aufbegehrt:

Ihr sagt: Der Weg des Herrn ist nicht richtig. Hört doch, ihr vom Haus Israel: Mein Weg soll nicht richtig sein? Sind es nicht eure Wege, die nicht richtig sind? Wenn ein Gerechter sich abkehrt von seiner Gerechtigkeit und Unrecht tut, muss er dafür sterben. Wegen des Unrechts, das er getan hat, wird er sterben. Ezechiel 18,25f

Das Wähnen des Besitzes der Wahrheit wird also offenkundig schnell zum Wahn – vor allem dann, wenn man den Höchsten und Ewigen zähmen und dem eigenen Denken gefügig machen will. Wie oft hört man auch heute noch in Verlautbarungen und Predigten, was Gott vermeintlich so alles will – als hätten die Prediger – und in diesem Fall sind es in der römisch-katholischen Tradition dann tatsächlich nur Männer – morgens zum Frühstück noch persönlich mit dem Schöpfer einen Plausch gehalten. Dabei liegt auf dem Frühstückstisch die alles entscheidende Frage in der Regel offen vor Augen: Was war früher? Das Ei oder das Huhn?


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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – 29. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A

Die Wahrheit ist eine Falle. Sie lässt sich nicht belügen. Sie legt die Bigotterie oberflächlicher Entrüstung frei – denn wer sich ent-rüstet, ohne den Schutzpanzer wirklich abzulegen, führt Unwahres im Schilde. Die Österreicher erleben es in diesen Tagen. Wo ein Burkaverbot Wählerstimmen bringen sollte, wurde bisher keine einzige Burkaträgerin dingfest gemacht – wohl aber Werbefiguren wie Lego-Ninja-Werbefigur  und MacShark oder das österreichische Parlamentsmaskottchen „Lesko“. Auch Clowns und schaltragende Radfahrer erfuhren schon die ganze Härte eines absurden Gesetzes, das sich einer kulturellen Angst bedient, die in Europa jeder Grundlage entbehrt. Die Wahrheit ist, dass die Burka kein wirkliches Thema der Straßen und Plätze der europäischen Städte ist. Die Bigotterie der Entrüstung wird offenbar – und trifft lebensgroße Plüschfiguren. Angst fressen Verstand auf …

Man muss aber gar nicht nach Österreich schauen, um der Oberflächlichkeit politischer Ent-rüstungen habhaft zu werden. Im Vorwahlkampf 2017 veröffentlichte Bundesinnenminister Thomas de Maizière einen Leitkultur-Vorstoß, in dem sich unter anderem prosaische Stilblüten wie der Satz „Wir sind nicht Burka“ fanden. Nun zaubert der gleiche Bundesinnenminister die Forderung nach einem muslimischen Feiertag in Deutschland aus dem Hut – ohne dass deutlich würde, auf welcher rechtlichen Grundlage ein solcher Feiertag eingerichtet würde. Im Unterschied zu den Kirchen oder den jüdischen Kultusgemeinden, die durch den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes (KöR) staatlicherseits als Religionsgemeinschaften anerkannt sind, ist das – mit Ausnahme der Ahmadiyya Muslim Jamaat, die 2013 in Hessen den Status einer KöR zuerkannt bekam, von den meisten Muslimen aber als unislamisch eingestuft wird – bei den islamischen Gemeinden nicht der Fall. Die Einrichtung einer KöR bringt Rechte und Pflichten mit sich. So heißt es in der diesbezüglich weiter geltenden Weimarer Reichsverfassung:


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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – 4. Sonntag der Osterzeit, Lesejahr A

Nicht jede scheinbar in Stein gemeißelte Weisheit wahrt bei näherem Hinsehen die ihr zugesprochene Wahrheit. Die Worte schmeicheln dem Ohr und umgarnen die Seele, die sich so nur allzu schnell fesseln und binden lässt, wie weiland die Liliputaner dem Gulliver seine Freiheit nahmen. Das, was eben noch der Stein der Weisen zu sein schien, entpuppt sich dann schneller als rundgeschliffenes Kieselsteinchen ohne Ecken und Kanten, die – wenn es darauf ankommt – keinen wirklichen Halt zu geben vermögen.

Zu jener Art kieselner Weisheiten gehört auch das Wort, der Weg sei das Ziel. Das klingt wunderbar prozessorientiert; freilich wird nur allzu schnell übersehen, dass der, der im Weg selbst schon das Ziel erblickt, im Kreis läuft – ohne Ausweg, ohne Ergebnis, verdammt, immer weiter zu laufen. Das mag oberflächlich von der Last faktischer Entscheidung und Verantwortung befreien; allerdings degeneriert ein solcher Mensch sich selbst zum dauerlaufenden Hamster. Es ist schon bemerkenswert, dass nicht selten diejenigen, die fordern, man müsse endlich aus dem Hamsterrad des Alltags aussteigen, oft auch den Weg als Ziel beschwören. So aber kommt man von der Traufe in den Regen.


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kath 2:30 Dies DominiDies Domino – 6. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A

Werte sind in Mode. Der Begriff „Werte“ gehört dabei zu den Schlagworten, die neben Begriffen wie „postfaktisch“, „populistisch“ und anderen an semantischer Diffusion kaum zu überbieten sind. Alle benutzen sie, kaum einer weiß, was mit ihnen gemeint ist. Die Begriffe wirken einfach. Ihre rhetorische Valenz ist hoch. Die Worte schlagen zu. Wer von „Werten“ spricht, kann sich der Aufmerksamkeit der Leserinnen und Hörer gewiss sein, auch wenn kaum ein Konsens darüber besteht, was „Werte“ überhaupt sind und worin sie sich begründen. Aber was will man in Zeiten erwarten, in denen selbst Wetterberichte „gefühlte Temperaturen“ prognostizieren, bei denen man sich doch fragen muss, wie „gefühlte Werte“ überhaupt gemessen werden.

Der Begriff „Wert“ ist dabei gleich in mehrfacher Hinsicht diffus. So veröffentlichte die Rheinische Post eine Umfrage, welche „Werte“ den Deutschen am wichtigsten seien. Die ersten fünf Plätze belegen „Ehrlichkeit“, „Selbstständigkeit“, „Verlässlichkeit“, „Hilfsbereitschaft“ und „Richtiges Benehmen/Anstand“. Handelt es sich bei diesen Haltungen aber tatsächlich um „Werte“? Oder sind es nicht vielmehr Eigenschaften, Haltungen eben. Woran etwa bemisst sich der vermeintliche Wert „Ehrlichkeit“? Besteht er in dem Suchen und Tun dessen, was wahr ist? Oder ist nicht auch ein Donald Trump ehrlich, wenn er seine auf alternative Fakten begründeten Versprechen in die Tat umsetzt?

Hinzu kommt als Zweites die Frage nach der Legitimation von „Werten“. Der neue Chefredakteur der Welt am Sonntag, Peter Huth, stellt hierzu grundsätzlich fest:


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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – Dritter Adventssonntag, Lesejahr A

Gerüchte haben Konjunktur. Sie wurden in diesen Tagen gar geadelt. Das Wesen des Gerüchtes ist auf den Begriff gekommen: „postfaktisch“ ist von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gekürt worden. Eine noble Auszeichnung für ein Adjektiv, ein Beiwort, das das „Wie“ eines Bezugsbegriffes beschreibt. Ohne diesen Bezug hängt das Wort genauso in der Luft wie diejenigen, die den Verlockungen des Postfaktischen anheimgefallen sind.

Das Wort hat eine kurze, aber steile Karriere hinter sich. Felix Stephan stellt in der „Zeit“ fest:

„Im März dieses Jahres hat die Harvard-Historikerin Jill Lepore erstmals darüber nachgedacht, wie es kommt, dass bei der Kandidatenkür der republikanischen Partei in den USA die Wahrheit offenbar keine Rolle spielt. Während der Fernsehdebatten diskutierten verschiedene Kandidaten nicht etwa darüber, mit welchen politischen Strategien man den Problemen des Landes am besten begegnen sollte. Sie stritten darüber, wer überhaupt die Wahrheit sagte. Weil es keine Instanz gab, die von allen Beteiligten anerkannt wurde, war es ihnen unmöglich, eine gemeinsame Basis zu finden, auf der sie diskutieren konnten. So blieb ihnen nur, sich gegenseitig zu diskreditieren.“ (Quelle: http://www.zeit.de/kultur/2016-12/postfaktisch-wort-des-jahres-post-truth-demokratie-jill-lepore [Stand: 10. Dezember 2016])

Das Postfaktische basiert also auf einem Konsensmangel, der sich nicht mehr der alten Pilatusfrage:

Was ist Wahrheit? (Johannes 18,38)

stellt. Die Frage des römischen Statthalters wird durch die Antwort Jesu im Verhör hervorgerufen, der auf die Frage, ob er doch ein König sei, antwortet:


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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – 30. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C

Liebe Leserinnen und Leser,

dunkler wird es in diesen Tagen, die Schatten werden länger. Das Äquinoktium ist noch nicht lange Vergangenheit. Die Sehnsucht nach heller Wärme und lichter Freude erwacht aber jetzt schon in den Seelen der Menschen. Der Nebel der immer tiefer dräuenden Wolken aber drückt so manchen jetzt schon aufs Gemüt.

Der Mensch als Wesen, das mit der Fähigkeit der Phantasie begabt ist, kennt viele Fluchtmöglichkeiten aus der dunklen Gegenwart. Immer weniger benötigt er dazu die Pfade der eigenen Träume. Augmented Reality heißt die Heilsverheißung der Gegenwart. Wo früher ein virtuelles Brett vor dem Kopf den Blick auf das Offensichtliche verstellte, tragen immer mehr Zeitgeister einen Plastikkasten mit integrierter High-End-Technik vor dem Lobus frontalis, jenem Teil des Gehirns, der einst als das menschlichste galt, wird er doch von manch einem Autor gar als „Organ der Zivilisation“ bezeichnet. Der Evolution hat es gefallen, dem Lobus frontalis die Regulierung der kognitiven Prozesse zuzuweisen, so dass der Mensch an sich in der Lage ist, situationsgerechte Handlungen auszuführen. Der Stirnlappen prägt somit in wesentlicher Weise die Persönlichkeit und das Sozialverhalten eines Individuums. Von hier aus wird die angemessen Interaktion mit der Umwelt gesteuert, in der sich das Individuum nicht zuletzt durch seine Sinne verortet, jene Sensoren, die bereits durch einen High-Tech-Plastikkasten so manipuliert werden können, dass der Mensch Welt und Wirklichkeit enthoben Scheinwelten für real hält. Augmented Reality nennen das die intelligenten Designer der Gegenwart, wörtlich also erweiterte Wirklichkeit. Das vor Augenscheinliche wird zur Realität erklärt; der Mensch überlässt sich der Täuschung der Sinne. Hier zeigt sich, dass diejenigen, die nur dem vertrauen, was sie sehen, hören und fühlen, nur allzu schnell den Boden unter den Füßen verlieren können: Am Abgrund stehend mag die virtuelle Scheinwelt das Tor zum Garten Eden suggerieren, von dem nur noch ein Schritt trennt, jener Schritt, der dem Leben in der physischen Welt ebenso ein jähes Ende bereiten wird, wie den selbstinszenierten Traumwelten aus Polymeren.

Die Parallelwelt aus Plaste und Elaste ist aber nicht der einzige Fluchtort, dem Menschen angesichts der harten Realität der Welt, wie sie ist, zustreben. Der Mensch ist auch in der Lage, die Herausforderungen der Gegenwart einfach wegzulächeln. Lachen verursacht unter anderem die Ausschüttung Endorphine aus, jenes vom Körper selbst erzeugte Opioid, das neben schmerzstillender Wirkung auch noch gute Laune macht. Endorphine können süchtig machen. Sportler kennen das, vor allem Extremsportler. Man muss nur durchhalten, um über den Punkt der Endorphinausschüttung hinwegzukommen. Regelrecht high werden sie dann, wenn sie den Schmerz nicht mehr spüren und sich dem Rausch der Hormone hingeben können. Interessanterweise kann der gleiche Vorgang auch durch intensives Beten herbeigeführt werden. So stellt der Psychologe Eckart Straube auf die Frage, ob der Glaube wie ein Placebo sei, das nur wirke, wenn jemand davon überzeugt ist, fest:


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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – 5. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C

Wer die Wahrheit wahrhaft sucht, kann sich nicht mit Fiktionen begnügen. Weil der Glaube selbst die Wahrheit zu verkünden trachtet, ist seine Methode die Vernunft. Glaube ohne Wissen und Erkenntnis ist Unmöglichkeit, eher eine autosuggestive Fiktion, die den Wirren des Lebens eine oberflächliche Stabilität zu verleihen mag, die aber bei ersten lauen Lüftchen des Zweifels wie Sand weggeblasen wird und die dicht unter der Oberfläche liegenden Hohlräume offenbart. Fiktion ist eben, was der lateinische Herkunftsbegriff fictio schon sagt: Erfundenes, Ausgedachtes, selbst Gestaltetes. Die Meister der Fiktion erschaffen sich eine eigene Welt, ein in sich geschlossenes System, das eine gewisse Tragfähigkeit beweist, solange man nicht an den dürren Fundamenten rüttelt. Um dieses System zu schützen, werden allerlei Maßnahme ergriffen. Die simpelste ist es, die eigene Sicht als unumstößliche Wahrheit zu definieren, alles andere hingegen als Lüge. Allein schon die Frage, warum denn etwas so ist, wie es ist, wird dann als aggressiver Akt gedeutet, als satanische Versuchung, als Glaubensschwäche – oder einfach als Lüge. Wer nicht das sagt, was man selbst denkt, lügt.

Das Phänomen ist nicht neu, gegenwärtig aber brandaktuell. Es betrifft Gesellschaft und Kirche gleichermaßen. Dem ultimativen katechetischen Apodiktum „Das muss man glauben“, das jede Frage nach rationaler Rechenschaft über das zu Glaubende autoritär unmöglich macht, korrespondiert das Armutszeugnis einer sich mündig wähnenden Bürgerschaft, die sich lieber der desinformativen Flut von Online-Foren und sogenannter sozialer Medien hingibt, als sich kritisch mit Zahlen, Daten und vor allem Fakten auseinandersetzen. Wer braucht schon Fakten, wenn es doch das Hören-Sagen gibt. Der besorgte Bürger nährt seine Sorge gerne aus dem, was er immer schon wusste und nun wieder hört. Es reicht, dass jemand jemanden kennt, der etwas im Internet gesehen hat. Gerade weil das, was er dort hört, das eigene Bild bestätigt, genügt das schon. Nachfragen und Nachprüfungen braucht da niemand. Die fiktive Verifikation der Autosuggestion reicht doch schon. Man hat es doch immer schon gewusst. Und die, die tatsächlich recherchieren und prüfen und noch einmal nachfragen und Fakten suchen und die Fakten sortieren und bewerten und interpretieren – ja: ohne Interpretation geht es nicht – und dafür den rationalen Verstand vor die irrationale Macht der Sorge setzen, die lügen, wenn sie nicht das sagen, was man selbst immer schon wusste.


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