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kath 2:30 Dies DominiDies Domini – 19. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B

In Zeiten, in denen reflexhafte Reaktionen regieren, braucht es keine Reflexionen. Die Konditionierung tritt an die Stelle des Denkens. Die Last der Vernunft wird von denen genommen, die ihr Handeln schon lange nicht mehr rechtfertigen wollen. Die je aktuelle Emotion tut sich schwer mit verstandesmäßiger Information. Die radikale Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit auf selbstkonstruierte Passmuster macht das Leben einfach. Und das ist effizient. Schließlich ist das Gehirn energiehungrig. Wer über ausgeprägte Reflexe verfügt, kann hier seinen Energiehaushalt schonen.

Den Drang zu dieser besonderen Art, Energie zu sparen, kann man gegenwärtig wieder hervorragend beobachten. Die sogenannten sozialen Netzwerke entpuppen sich dabei als Orte menschlicher Selbstoffenbarung. Wer die Kommentare unter den Meldungen liest, wird sich schnell der Illusion, der Mensch sei die Krone der Schöpfung, begabt mit Verstand und Selbstbewusstsein, die ihn vom Tier unterscheiden, entledigen. Vielmehr scheinen Facebook, Twitter und Co. ein riesiges Labor zu sein, in dem die ehemals mit Hunden durchgeführten pawlow’schen Reiz-Reaktions-Experimente nun in globalem Ausmaß an Menschen durchgeführt werden. Und wie Pawlow seinerzeit den Hund durch bloßes Läuten eines Glöckchens zum Sabbern brachte, weil dieser durch das Geräusch auf Futtergabe konditioniert war, so reagiert das animal rationale heute noch auf bestimmte Worte mit den immer gleichen Reflexen. Man braucht nur „Flüchtling“ sagen bzw. schreiben – und schon werden in Facebook Fratzen sichtbar, die die Angst vor ihrem eigenen Dasein und dessen Herausforderungen auf andere, die sie nicht kennen, die ihnen nichts nehmen, die ihr Dasein weder schlechter noch besser machen, abwälzen. Wenn es nicht in sich selbst reflexhaft wäre, möchte man ihnen zurufen, doch das eigene ärmliche Dasein mit denen der Flüchtlinge, die es doch angeblich um so viel besser haben, zu tauschen. In diesem längst konditionierten Spiel des kommunikativen Ping-Pongs kommt man nur keinen Schritt weiter.

Neben diesem Phänomen der konditionierten Projektion ist gegenwärtig aber noch ein anderes wunderbares Geheimnis menschlicher Reaktionsfähigkeit zu beachten: die konditionierte Distinktion. Auch sie ist ein altes Schema. Die Last der Verantwortung für das eigene Handeln wiegt zu schwer. Deshalb neigt der Mensch entweder zur schwärmerischen Spiritualisierung, in der er der Schwere des Seins selbstsuggestiv entfliehen kann; oder aber er diabolisiert die unzweifelhaft zum Sein gehörenden negativen Aspekte, indem er sie einkapselt und von sich selbst trennt. Der sich so seine Seele selbst verstümmelnde Mensch ist dann für das Böse nicht mehr verantwortlich. Es betrifft ihn nicht. Der Teufel ist dann überall am Werk, nur der Mensch ist nicht betroffen. Er braucht sich auch nicht zu ändern. Er braucht keine Verantwortung zu übernehmen. Denn er ist ja nicht verantwortlich.

Letzteres ist ein sehr beliebtes Reiz-Reaktions-Schema. Wenn der sogenannte IS im Namen des wahren Islam mordet, braucht es nicht lange, bis gemäßigte Muslime konstatieren, die IS-Schergen seien ja keine wahren Muslime. Wenn im Ruhrgebiet Libanesenclans gegeneinander Krieg führen, braucht es nicht lange, bis gemäßigte Landsleute feststellen, jene seien keine echten Libanesen, sondern eigentlich Türken (als wenn das besser wäre, weil sofort türkische Landsleute konstatieren, es seien eigentlich Kurden, die von Kurden dann wieder als unechte Kurden identifiziert werden). Wenn in Freital ein nach eigenen Angaben sturzbetrunkener Rentner angesichts einer Pro-Asyl-Demonstration den Hitlergruß zeigt, ist das natürlich kein echter Deutscher. Und wenn in Zentralafrika Christen Muslime zwangstaufen – Sie ahnen es, liebe Leserin und lieber Leser, sind das natürlich keine wahren Christen – zumindest keine katholischen!

Schuld, das sind sowieso immer die anderen. Da kann man sich getrost in die Leichtigkeit des Seins des eigenen Sessels zurück lehnen. Denn was hat der Libanese mit unechten Libanesen zu schaffen, die sich in Essen-Altendorf die Köpfe einschlagen, oder der Türke mit den unechten Türken von Duisburg-Marxloh. Und was haben Christen überhaupt mit Muslimen zu tun. Sollen die sich doch um ihre eigenen Problem kümmern …

Reflexe sind unwillkürliche, schnelle, wegen ihres erprobten Erfolges aber immer auch gleichartige Reaktionen auf einen gegebenen Reiz. Das spontane Zurückziehen der Hand von der heißen Herdplatte verhütet schlimmeren Schaden. Reflexe sichern also das eigene Überleben. Der Mensch aber ist als soziales, vor allem aber mit Verstand begabtem Wesen der Herrschaft der Reflexe nicht hilflos ausgeliefert. Um des Menschseins und der Menschlichkeit willen, muss der Mensch lernen, seine Reflexe zu beherrschen. Der Reflex an sich ist als unwillkürliche Spontanreaktion nichts schlimmes. Der Reflex ist affektiv, der Mensch in sich aber reflexiv. Er ist in der Lage, den Reflex zu reflektieren. Der Mensch ist das Wesen, das auch für seinen affektiven Reaktionen Verantwortung übernehmen kann und muss.

Kommunikation – gerade schriftliche – ist allerdings selten affektiv. Wo in einer Live-Situation noch ein Wort das andere geben mag, ist in der schriftlichen Kommunikation immer eine zeitversetzte Reaktion gegeben, die Reflexion ermöglicht. Wer früher einen Brief schrieb, las ihn sich noch einmal durch, legte ihn in einen Umschlag, den er adressieren und frankieren musste, bevor man ihn schließlich zum Briefkasten brachte. Erst dann war das Schreiben unwiederbringlich auf den Weg gebracht. Viel Zeit, zu überlegen, ob man das Geschriebene wirklich so und überhaupt abschicken wollte. Das tat der menschlichen Kommunikation gut. Gedanken konnten reifen und mit ihnen der Mensch.

Heutzutage sind die Finger zu schnell bei der Enter-Taste, als das die Seele des Menschen hinterher kommen könnte. Der Reflex hat die Reflexion entmündigt. Und weil die, die das Denken noch nicht verlernt haben, die Enter-Taste nicht mehr drücken, hat es den Anschein, dass diejenigen, die in der virtuellen Welt ihre offenkundig angsterfüllten Reflexe nicht mehr im Griff haben, in der Mehrheit sind. Die scheinbare Sicherheit dieser virtuellen Mehrheitsverhältnisse veranlasst viele mittlerweile, die Masken fallen zu lassen und sich in die Schar der „besorgten Bürger“ einzureihen, jener form- und gesichtslosen Masse, die außer Bitterkeit und Geschrei wenig Sinnhaftes zum Gelingen der Gesellschaft beizutragen haben.

Auch Christen sind nicht davor gefeit. Wie sehr das Phänomen der konditionierten Distinktion auch bei denen eingewurzelt ist, die sich auf der richtigen Seite des Heiles wähnen, konnte man wieder bei dem jährlich stattfindenden Kongress „Freude am Glauben“, der 2015 in Fulda tagte, erkennen. Nicht nur, dass der schweizerische Bischof Dr. Vitus Huonder mit einer exegetisch mehr als fragwürdigen Berufung auf die Bibel feststellte, dass das Alte Testament für Homosexualität die Todesstrafe forderte (was er später als Missverständnis verstanden wissen wollte); auch der Journalist Jürgen Liminski weicht einer kritischen Diskussion über Ehe und Familie aus, indem er andere Positionen als die seine in merkwürdiger Weise diskreditiert, wie die Redaktionsleiterin der Zeitschrift „Christ und Welt“, Christiane Florin, in ihrem Beitrag „Freude am Glauben, naturtrüb“ beschreibt..

Die Bitternis und Angst muss groß sein, bei denen, die ihr eigenes kleines Ich nur durch konditionierte Distinktion zu schützen vermögen. Die Frucht solcher Haltungen sind Beleidigungen, Geschrei, Zorn, Bitterkeit und Geschrei. An diesen Früchten kann man die Angstchristen erkennen. Aber es gibt Heilung, wie es der Autor des Epheserbriefes es in der zweiten Lesung vom 19. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B beschreibt:

Beleidigt nicht den Heiligen Geist Gottes, dessen Siegel ihr tragt für den Tag der Erlösung. Jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung und alles Böse verbannt aus eurer Mitte! Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat. Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder, und liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und als Opfer, das Gott gefällt. (Epheserbrief 4,30-5,2)

Das alles mag sich theoretisch anhören, schön und fromm. So schön und fromm, das es schon wieder unwirklich ist. Solche Appelle verhallen doch schnell in der konditionierten Projektion – soll doch der andere …

Das Evangelium vom 19. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B spricht da eine sehr drastische Sprache, wenn es den, durch den Gott uns vergeben hat, selbst zu Wort kommen lässt:

Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, ich gebe es hin für das Leben der Welt. (Johannes 6,51)

Fleisch – griechisch σάρξ (gesprochen: sárx) – das ist mehr als konkret. Das Brot, das Jesus geben wird, ist σάρξ/Fleisch – da ist kein Platz für fromme Spiritualisierungen. Dieses Fleisch-Jesu-Brot gibt er zu essen. Wer dieses Sarx-Brot isst, nimmt ihn auf, vereinigt sich mit ihm, gibt ihm Herberge. Wer ihn so in sich trägt, seinen Geist atmet, muss neue Reflexe lernen. Aus der abwehrenden Hand muss die helfende werden. Die Fäuste müssen sich zum Gruß öffnen. Das jedwede Kommunikation verunmöglichende Geschrei muss verstummen. Wer eben noch reden wollte, muss hören lernen. Und vor der Entertaste wartet die Denkpause: Mensch! Wenn du Mensch bist, denke! Werde nicht Opfer deiner Reflexe. Befreie dich von den Konditionierungen. Du bist Mensch und kein sabbernder Hund.

Mit der Leichtigkeit des Seins im Sessel wird es vorbei sein für diejenigen, die so Verantwortung übernehmen. Nach der Denkpause wird es Zeit, die Entertaste zu drücken und denen in die tippenden Finger zu fallen, die den Sabber nicht halten können. Es ist die Nachahmung dessen, der sein Leben für die vielen hingegeben hat, konkret und spirituell unprätentiös, die das gebietet. Es ist der Geist Gottes, der in uns atmet, der uns zu Menschen macht – Menschen, die Libanesen, Türken, Kurden, Rumänen und Deutsche sein können, Muslime, Juden und Christen, Männer und Frauen, Hetero- und Homosexuelle – sie alle bleiben Menschen; Menschen, die nach dem Abbild Gottes geschaffen wurden. Wer fällt denen in die Arme und Finger, und manchmal auf den Mund, die das nicht begreifen wollen?

Dr. Werner Kleine

Author: Dr. Werner Kleine

Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.

1 Kommentar

  1. Kath 2:30 schrieb am 15. August 2015 um 21:49 :

    […] σάρξ (gesprochen: sárx) – das beugt jeder hypergeistlichen Spiritualisierung vor. Das ist zu konkret, um symbolisch missverstanden zu werden. Man kann sich noch nicht einmal auf das einmalige Beispiel […]

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