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Haiti acht Monate nach dem Beben: Über den Neubau einer eingestürzten Schule in den vergessenen Bergen und über eigenwillige Hilfe aus Deutschland

Von Øle Schmidt

kath 2:30 ReportageAls wir das schwere Eisentor vor unserem Haus zur Seite schieben, nickt unser haitianischer Sicherheitsmann freundlich. Dann studiert er weiter die Bibel. Neben ihm lehnt ein großkalibriges Gewehr. Es ist fünf Uhr morgens, die Hauptstadt Port–au-Prince erwacht. Wir sind auf dem Weg in das Bergdorf Coupeau, wo mit Geld der deutschen Kindernothilfe eine eingestürzte Schule neu gebaut wird.

Ich begleite den Haiti-Koordinator des christlichen Hilfswerks, Jürgen Schübelin, und den chilenischen Architekten Alvaro Arriagada. Unser Geländewagen passiert den Stadtteil Carrefour. Haiti ist tief verwundet, nicht erst seit dem verheerenden Erdbeben Mitte Januar, das mehr als 250.000 Menschen das Leben gekostet hat, mehr als einer Million ihr Obdach nahm. Die Straße ist aufgeplatzt wie eine Eiterblase, der Bauschutt türmt sich Meter hoch. Es riecht nach Urin und Abfall. Auf dem Mittelstreifen der verstopften Hauptstraße leben Familien in notdürftigen Verschlägen mit Plastikplanen. Kinder spielen in ausgebrannten Autowracks. Der Staub Tausender eingestürzter Häuser liegt wie Nebel über der Stadt. Wenn es eine Vorhölle gibt, dann ist hier ein Eingang. Die Räder des Jeeps vor uns versinken in einem Loch mit giftgrünem Wasser. Auf der Heckscheibe steht in großen Buchstaben: Thank you, Jesus! 

Wie folgenreich die Arbeit der vielen Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt in Haiti für die Zukunft des Landes ist, lässt sich allein an ihrer Zahl erahnen. Mehrere tausend NGOs übernehmen nach Aussage des deutschen Botschafters seit dem Beben Aufgaben des buchstäblich eingestürzten Staates – und bestimmen so maßgeblich mit, ob es gelingen kann, der Naturkatastrophe, die vor allem aber eine soziale und politische ist, eine Wendung zu geben: Hin zu dem von der internationalen Gemeinschaft viel beschworenen Neuanfang für das schon vor dem Beben ärmsten Landes der westlichen Hemisphäre, der ein Neuaufbau sein soll, kein Wiederaufbau.

Hoffnung und Verantwortung liegen dicht beieinander; die Sehnsucht der Haitianer nach Normalität in ihrem von Kolonialherren, US-Besatzern und korrupten Machteliten ausgeweideten Landes und die Art und Weise der Hilfe privater Organisationen.

Mit einem Übersetzer treten wir unseren dreistündigen Fußmarsch an. Die Auf- und Abstiege steiler Bergwege sind beschwerlich. Der Rivière Froide, der Kalte Fluss, den wir mehrfach durchqueren, ist so reißend, dass wir uns an den Händen halten müssen. In diesem rund 50 Kilometer langen Tal war das Epizentrum des Bebens. »Die Herausforderung hier in Coupeau ist die Logistik, nicht das Bauen. Die Dorfbewohner transportieren jeden Sack Zement, jeden Sack Sand und alle Eisenträger zu Fuß aus der Stadt in die Berge«. Alvaro Arriagada weiß, wovon er spricht, einmal wöchentlich geht er diesen Weg, um drei Tage in dem Bergdorf zu arbeiten. Alte und Junge kommen uns entgegen, Frauen und Männer, die meisten tragen ihre Lasten auf dem Kopf. »Hey, Weißer, wir haben Hunger!« Immer wieder werden wir so von Haitianern angesprochen, selbst von einem Händler, der sein Lebensmittelsortiment auf dem Rücken eines Esels transportiert. Allein unsere Anwesenheit löst einen Reflex aus: die selbstverständliche Aufforderung nach Hilfe. Alvaro Arriagada antwortet freundlich, aber bestimmt, dass er gekommen sei, um Menschen mit seiner Arbeitskraft zu unterstützen, nicht aber um Almosen zu verteilen.

Als wir bei mittlerweile vierzig Grad im Schatten Coupeau erreichen, ist die Freude groß über unsere Ankunft. Der Lehrer lässt seine Schüler ein Begrüßungslied anstimmen. Unterrichtet werden die 70 Schüler seit dem Beben in einem orangefarbenen Zelt, direkt neben der Baustelle. Wie durch ein Wunder ist bei dem Einsturz der Schule niemand verletzt worden. Der Lehrer Phenol hatte seine Schüler kurz bevor die Erde bebte zum Spielen rausgeschickt, weil er noch etwas vorbereiten wollte. »Als wir zum ersten Mal in die Berge hoch gestiegen sind, fanden wir eine Gemeinde vor, Kinder, Eltern, Großeltern, in der niemand auch nur eine Minute in einer Schule verbracht hatte.« Jürgen Schübelin nimmt einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Für ihn ist es eine Herzensangelegenheit, dass die kleine Schule neu gebaut wird. Für etwa 25.000 Euro entstehen zwei Klassenräume, ein Lehrerzimmer mit kleiner Bibliothek, Toiletten und eine Zisterne, um Regenwasser aufzufangen. So weit die Wünsche der Dorfbewohner, die Alvaro Arriagada in Dorfversammlungen zusammengetragen hat.

Schüler werden in einem Zelt unterrichtet

Der 28-jährige Architekt aus Santiago de Chile ist Experte für erdbebensicheres Bauen – und für Gemeindearbeit, für die Prozesse also, wie gebaut wird. Gemeinschaftsarbeit, ökologisch, nachhaltig, dezentral: Die Kindernothilfe geht einen eigenwilligen Weg der Unterstützung in Haiti, jenseits von Bevormundung und Alimentierung so mancher Hilfsorganisation, die bestehende Abhängigkeiten festschreiben, ganz unabhängig davon, wie gut die Hilfe auch gemeint war. »Richte keinen Schaden an! Diese Grundregel der Entwicklungshilfe wird in Krisenregionen wie Haiti immer wieder verletzt!« Jürgen Schübelin wischt sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht. Die Schule wird mit heimischen Materialien gebaut, um die regionale Bauwirtschaft anzukurbeln; so weit es geht ohne Holz, um die wenigen verbliebenen Wälder zu schonen; bewusst in der vergessenen Peripherie, und eben nicht in der Hauptstadt Port-au-Prince, auf die sich die meisten NGOs konzentrieren. Das Herzstück dieses Modellprojekts, das die Dorfbewohner letztlich in die Selbstbestimmung entlassen soll, ist das Combitsystem. Eine haitianische Tradition, bei der Nachbarn Wohnhäuser, Kirchen und Schulen gemeinsam bauen. Auch hier in Coupeau bedeutet Combit für die meisten Dorfbewohner der Verzicht auf Geld für geleistete Arbeit. Bezahlt werden nur die vier professionellen Bauarbeiter und die Träger schwerer Lasten. Für alle, die mithelfen, beginnt der Tag morgens um vier mit einem gemeinsamen Frühstück, danach wird hart gearbeitet, am Abend gibt es dann ein Fest mit warmer Mahlzeit.

Je mehr NGOs in aller Welt das Vakuum füllen, das Nationalstaaten in Krisenzeiten nicht ausfüllen können oder wollen, desto bedeutsamer wird, wie sie ihre Rolle als politische Akteure selbst definieren. Dabei wird deutlich, wie vielschichtig Hilfe ist, wie widersprüchlich sie sein kann. Eine Amerikanerin, die seit zwei Monaten in Haiti arbeitet, zieht eine ernüchterte Bilanz. »Ob in Afghanistan, im Irak oder jetzt in Haiti – als Helferin reise ich letztlich den Truppen meiner Regierung hinterher. Ohne dass ich eine Alternative zu unsere Arbeit für Menschen in Not sehe, erlebe ich es so, dass wir die Scherben von politischen Konflikte wegfegen, die Opfer von Neokolonialismus und Naturkatastrophen verarzten.«

Die popkulturelle Entsprechung dieses Aspekts von Hilfe ist die Figur des Cleaners. Den wohl bekanntesten Cleaner spielt Harvey Keitel in Quentin Tarantinos Thrillergroteske Pulp Fiction. Nachdem John Travolta und Samuel L. Jackson bei einem versehentlichen Mord in einem Auto ein Blutbad angerichtet haben, rufen sie Keitel an, damit er die Angelegenheit bereinigt. Ein überzeichnetes Bild, natürlich, wenn auch wohl lange nicht so absurd, wie es zunächst erscheinen mag.

Auch makropolitisch übersetzt, lässt die – persönliche – Einschätzung der Helferin einen bitteren Schluss zu: Als global operierende Cleaner sind moderne Nichtregierungsorganisationen weit mehr in die weltweite Sicherheitsarchitektur eingebunden, als ihnen lieb sein kann. Dann ist auch der Vorwurf der Arbeitsteilung nicht mehr weit, bei der, ganz neoliberal, humanitäre Hilfe von Staaten an private Akteure ausgelagert wird.

Doch auch Hilfsorganisationen diskutieren ihre Rolle, spiegeln Nähe zu Politik und Militär, entwickeln Entwürfe, die weit über Katastrophenhilfe hinausgehen. Die Stiftung von Medico International etwa hat ihren letzten Kongress in Frankfurt am Main unter die Frage gestellt: »Welche Hilfe für wessen Sicherheit?« Mit Blick auf die »zivilmilitärischen Kooperationen« in Krisenregionen und unter dem Eindruck von Soldaten als Katastrophenhelfern in Haiti, wollten die Teilnehmer ausloten, welche Alternativen es zu den Forderungen nach »internationaler Zwangsverwaltung« und Protektorat für Haiti gibt. Seit einigen Jahren schon diskutiert die medizinische Hilfsorganisation über »Macht und Ohnmacht der Hilfe«, darüber, dass »Entwicklungsbemühungen mehr und mehr in den Sog globaler Sicherheitspolitik geraten«.

Auch die Caritas scheut die Zwangsumarmung von Politik und Militär. Jüngst erst hatte der Präsident des katholischen Hilfswerks, Peter Neher, der Bundesregierung eine Absage für die geforderte Beteiligung an dem »Konzept der vernetzten Sicherheit« erteilt. Zwar begrüße er es, dass die Regierung zusätzliche Mittel für die Arbeit der Hilfsorganisationen in Afghanistan in Aussicht stellt, halte es aber für »inakzeptabel, dass die Vergabe dieser Gelder an sicherheitspolitische Bedingungen geknüpft ist«. Neher weiter: »Als Christen müssen wir dort helfen, wo Not herrscht, und nicht dort, wo es außenpolitisch oder gar militärisch Erfolg versprechend ist.«

Das Bündnis Entwicklung Hilft hat sich auf »Grundsätze für den nachhaltigen Wiederaufbau in Haiti« verständigt. Welthungerhilfe, Brot für die Welt, Christoffel-Blindenmission, medico international, Misereor, terre des hommes und auch die Kindernothilfe verpflichten sich darin auf eine Arbeit in Haiti, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, nicht an den Angeboten der Hilfsorganisationen oder gar an den Forderungen externer Geldgeber. Die sieben NGOs geben einer »echten Armutsbekämpfung« nur dann eine Chance, wenn alle Haitianer Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung haben. In dem bemerkenswerten Manifest verlassen die Unterzeichner das originäre Mandat von Hilfsorganisationen, etwa, wenn sie die Entwaffnung in Haiti fordern, oder den Wiederaufbau dezentral angehen wollen. Es sei außerdem notwendig, »Gewaltstrukturen und Machtverhältnisse« zu erkennen, »um diese idealerweise aufbrechen zu können und um Partizipation und Gleichberechtigung in der haitianischen Gesellschaft zu stärken.« Das Bündnis Entwicklung Hilft  scheut sich darüber hinaus nicht – quer zum Mainstream in der deutschen Debatte etwa – staatliche Steuerung für den Aufbau von Infrastruktur von Wohnungsbau und Landwirtschaft in Haiti zu befürworten.

Während die Hilfe in Port-au-Prince vielerorts noch stockt, überwiegend Abriss- und Aufräumarbeiten zu sehen sind, steht in Coupeau der Neubau der Schule kurz vor dem Abschluss. Umringt von neugierigen Kindern diskutiert Alvaro Arriagada mit einem Arbeiter die Schritte der nächsten Woche. Der Boss, wie sie ihn hier alle nennen, leitet die täglichen Bauarbeiten. Auf seinem verschwitzten Shirt steht: »Wenn unsere Kinder nicht lesen können, wie sollen sie dann wissen, was in der Welt passiert«. Der chilenische Architekt berät den Boss, wie er die Schule bauen muss, damit sie dem nächsten Erdbeben besser trotzen kann. Mehr Zement und weniger Sand für die Steine, die sie hier oben in Coupeau selbst pressen; mehr Eisenträger für die Säulen; Eisenträger auch für die Rahmen unter dem Dach, und vor allem eine andere Dachkonstruktion. Alvaro Arriagada erklärt: »Wer bei leichten Wänden schwere Dächer aus Beton baut, riskiert, dass das Gebäude einstürzt.«

Der Boss gibt das Wissen dann an diejenigen Dorfbewohner weiter, die ihr eingestürztes Haus selbst neu bauen wollen. So weit der Plan des deutsch-chilenischen Teams. Weil mit dem Beben Mitte Januar auch die Hoffnung der Dorfbewohner auf Perspektive eingestürzt war, die Hoffnung auf Bildung für ihre Kinder, sieht Jürgen Schübelin seinen Architekten auch als Therapeuten. Alvaro Arriagada drückt es so aus: »Das wichtigste für die Menschen ist, Vertrauen wiederzuerlangen. In ihre Kraft, ihre Fähigkeiten und in die Stabilität der Gebäude.«

»Wenn Hilfsorganisationen immer nur Geschenke aus schönen Jeeps und aus Hubschraubern verteilt haben, können sie nicht erwarten, dass die Menschen interessiert sind Aktivitäten und Selbsthilfekultur zu entwickeln.« Jürgen Schübelin rückt die blaue Weste mit dem Logo seiner Organisation zurecht. »Wir verstehen dieses Schulneubau-Projekt auch als politisches Signal. In Haiti wird es keine Perspektive zur Überwindung von Armut geben, ohne dass die vergessenen Menschen in abgelegenen Gebieten ein Selbsthilfepotenzial entwickeln.« Als er sich kurz vor unserem Rückweg in die Zivilisation bei den Kindern für ihren Schweiß treibenden Einsatz bedankt, sagt die zwölfjährige Natascha: »Ihr müsst nicht Danke sagen, es ist schließlich unsere Schule.«

 Øle Schmidt ist zur Zeit als Journalist im Auftrag von Caritas International im Überschwemmungsgebiet in Pakistan unterwegs.

Author: Oele Schmidt

Der Journalist Øle Schmidt lebt und arbeitet in Lateinamerika und Deutschland.

1 Kommentar

  1. Bettina Schaefer schrieb am 8. Juni 2011 um 17:47 :

    Ich möchte Ihnen gerne einen Buchtipp zu Haiti senden:

    Nach dem Erdbeben: Helden sind die die bleiben – als Krankenschwester im Krisengebiet

    In diesem Buch berichtet DRK-Krankenschwester Margot-Dietz-Wittstock aus Schlewig-Holstein über ihren Einsatz im Erstteam des Internationalen Roten Kreuzes in den 4 Wochen direkt nach dem Erdbeben 2011

    Näheres dazu unter: http://www.jetztzeit-verlag.de

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